Alice at Wonderland
Geburtstage in meinem Bekanntenkreis verteilt. Ich brauche mir bis ins Jahr 2367 keine Gedanken mehr über Geschenke zu machen. Zufrieden schnappe ich mir das Päckchen und stelle fest, dass Alex vergessen hat, seine Adresse in das Absenderfeld einzutragen. Es ist wunderbar, sich auf seine Intuition verlassen zu können. Wenn man ab und zu den Verstand gebräuchte, hätte das auch seine Vorteile.
Mit hängenden Schultern hole ich mir eine Flasche schweren spanischen Landwein und das letzte meiner Ta gebücher. Direkt hinter dem Eintrag Henning, 20 Uhr im Loretta's. P. nicht vergessen vermerke ich: Geschenk Alex klappt nicht. H. nicht vergessen. H wie Hirn.
DAS VIERTE GEBOT
»Geh doch einfach in diese Tapas-Bar am Ring«, sagt meine Volontärin Katja, während sie sich mit einer Tasse Kaffee auf den Rand meines Schreibtisches setzt.
»Tapas?«, entgegne ich empört, »mein Vater hält Tapas für eine palästinensische Untergrundorganisation. Völlig unmöglich!«
Auch die folgenden drei Vorschläge von Katja, McDonald's, Burger King und »dieser kleine Laden da hinten, wo ich mal Til Schweiger gesehen habe«, bringen mich nicht weiter. Dann könne sie mir auch nicht helfen, bescheidet mir Katja und verschwindet in Richtung Tee küche. Allerdings nicht ohne aus Versehen noch ein paar Tropfen Kaffee auf meine Unterlagen zu plempern. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so ungeschickt ist wie sie. Katja muss nur den Raum betreten, und wenn dann ein Kollege mit besorgtem Blick ihren Namen nennt, schaut sie sofort betroffen an sich herunter, in der Annah me, sie habe sich bestimmt bekleckert.
Aber jetzt habe ich andere Probleme. Meine Eltern kommen zu Besuch, und ich weiß nicht, wohin ich mit ihnen zum Essen gehen soll. Genau genommen weiß ich nicht mal, was ich überhaupt mit ihnen anfangen kann. Wenn ich's mir recht überlege, weiß ich ja nicht mal, war um die beiden überhaupt kommen. Seit ich von zu Hause ausgezogen bin, und das war vor dreizehn Jahren, haben
mich meine Eltern nur ein einziges Mal besucht, und das auch nur für eine knappe halbe Stunde. Sonst nie. Weder in meiner Studentenbude noch zu meiner Au-pair-Zeit in England. Okay, da war ich auch nur eine Woche, weil ich herausfand, dass der Vater meiner Gastfamilie eine Vi deokamera auf der Toilette installiert hatte. Aber trotzdem. Jetzt wollen die beiden mal sehen, wie ich so lebe. Und sicherlich ein, zwei Tage bleiben. Da fällt mir ein, ich habe ja noch nicht einmal ein Hotelzimmer gebucht. Mein Gott. Es ist Freitagmittag, Mama und Papa sind in spätestens fünf Stunden hier, und ich wollte eigentlich auch noch zum Friseur. Eins nach dem anderen. Zunächst gehe ich mal ins Internet und suche uns im Gastro-Guide ein schickes Restaurant für heute Abend heraus.
»Na, Recherche für eine Kochsendung?«
Mein Chef hat sich unbemerkt von hinten an mich herangeschlichen.
»Ich ... ja ... es geht um Ausländer die ... in ... die in Deutschland ein eigenes Restaurant ...«, stammle ich vor mich hin.
Doch mein Chef ist leider nicht einmal halb so bescheu ert, wie er mit seiner Fliege und dem Gladbach-Trikot unter seinem Jackett aussieht. Er fängt eine Gardinenpredigt an, in der die klassischen Wendungen »Privatangelegen heiten am Arbeitsplatz«, »wofür bezahl ich Sie eigentlich« und »haben Sie am Wochenende schon was vor« auftau chen.
»Ihre Eltern kommen zu Besuch!«, sagt Katja lapidar im Vorbeigehen.
Und schon ist mein Chef wie ausgewechselt. Das Problem habe er jahrelang selbst gehabt und erst dadurch lö sen können, dass er sich dazu durchrang, seiner Familie monatlich 4000 Euro zu überweisen. Ich halte das auch für eine gute Idee, doch meine Bitte um eine entsprechen de Gehaltserhöhung ignoriert er. Stattdessen schlägt er mir ein gutes chinesisches Restaurant vor und gibt mir für
den Rest des Nachmittags frei. Als ich aufstehe, um mich zu bedanken, nimmt er mich sogar kurz in den Arm und drückt meine Hand, als wolle er mir kondolieren.
Ich packe meine Sachen zusammen und schalte den Computer aus. Gerade als ich gehen will, klingelt das Te lefon.
»Hallo Murmel! Hier ist Papa! Ich wollte dir nur sagen, dass wir gleich losfahren. Das heißt, wenn deine Mama endlich vom Klo. runter ist. Aber du kennst sie ja. Die kommt einfach nie in die Pötte! Also, bis später, mein Murmel!«, und dann legt er auf.
Ich bin über dreißig, und mein Vater nennt mich noch immer Murmel. Die Kurzform von Murmeltier. Weil ich als Baby immer so
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