Alice at Wonderland
für Sport interessiere, sei grund sätzlich schon mal kein schlechter Mensch.
Wir ziehen unsere Jacken über, doch kurz bevor wir losgehen, fällt mir ein, dass ich noch gar kein Hotel reser viert habe. Als ich die Problematik anspreche, schaue ich in fassungslose Gesichter.
»Du willst doch deine eigenen Eltern nicht etwa in ein Hotel abschieben? Wir schlafen hier auf dem Sofa, und basta!«
Argumente in Richtung Bequemlichkeit, unterschied liche Aufstehzeiten und eingefahrene Rituale bei der Bad benutzung fruchten nicht.
»Für eine Woche wird's schon gehen«, sagt meine Mut ter optimistisch.
Ich werde kreidebleich. Eine Woche. Ich habe tatsäch lich richtig verstanden. Ursprünglich war ich von einer Übernachtung ausgegangen, maximal aber bis Sonntag. Doch das scheint nun Ausmaße anzunehmen, die sich nicht mehr kontrollieren lassen. Ich beschließe, das Thema erst nach dem Abendessen erneut anzuschneiden.
Als wir endlich ein griechisches Lokal finden, in dem wir einen Tisch bekommen, obwohl wir nicht reserviert haben, ist es bereits kurz nach zehn. Das Essen verläuft in mir noch aus .Kindertagen vertrauter Art und Weise. Meine Mutter bestellt für alle, mein Vater mäkelt bei je dem Gericht »das hätte ich mir aber nicht bestellt« und weiß mindestens zehn Restaurants, in denen das Gyros eindeutig besser schmeckt.
Aber meinen Eltern fällt auf, dass der Ober Ähnlich keit mit Vasily Sarikakis aus der Lindenstraße hat. Das sei eine so gute Seele und wie geduldig der mit seiner Mary sei...
»Wie heißen Sie eigentlich, junger Mann?«, will mein Vater wissen, und der Kellner stellt sich als Dimitri vor. Als Papa ihn fragt, ob er mich attraktiv findet, suche ich nach meiner Walther PPK, um mich an Ort und Stelle zu erschießen. Dimitri erkennt Gott sei Dank die Peinlich keit der Situation und erklärt, dass er mich zwar bezau bernd fände wie den Morgentau auf den Weinbergen von Nemea, er aber verheiratet sei. Was meine Eltern zwar schön für ihn, aber für mich umso bedauerlicher finden. Dimitri lächelt mich verständnisvoll an und wendet sich dann wieder meiner Familie zu. Er bietet einen Ouzo an. Meine Mutter lehnt ab und entschuldigt sich in Richtung Toilette. Dimitri erfährt von Papa, dass sie Blasenproble me hat, Papa aber froh ist, dass sie in ihrem Alter nicht schon komplett inkontinent ist.
»Liebt ihr euch eigentlich noch, die Mama und du?«, frage ich, als der Ober den Tisch verlassen hat. Mein Vater sieht mich ungläubig an. Er hat offensichtlich keine Ahnung, wie ich überhaupt auf diese Frage komme. Aber er
merkt, dass mir die Antwort wichtig ist, und greift nach meiner Hand.
»Ich liebe deine Mama mehr als alles auf der Welt, mein Murmel!«, sagt er, und ich spüre, dass er es ehrlich meint. Ich weiß nicht, was Menschen über vierzig, fünfzig Jahre zusammenhält, aber offenbar haben die beiden einen ganz speziellen Umgang miteinander gefunden, der diese Ehe zu etwas Besonderem macht. Ein bisschen fange ich an, meine Eltern um ihr Glück zu beneiden.
»Mensch, was für ein Dekollete. Für die Kleine würd ich glatt meine Frau verlassen!« Mein Vater zwinkert mir verschwörerisch zu.
Er hat eine üppige Blondine entdeckt, die sich an den Nebentisch setzt. Und während er das Busenwunder mit den Augen auszieht, zerplatzt bei mir die eine oder andere romantische Vorstellung vom Zusammensein.
Meine Mutter kommt zurück, und schon fängt Papa an, darüber zu lästern, wie unpassend, ja geradezu obszön sich manche Frauen heutzutage kleiden. In der Großstadt sei das besonders auffällig, und die Blonde am Nebentisch sei das beste Beispiel für den Wertever fall. Genauso wie die Rechnung, die ihn bleich werden lässt. Nicht nur, dass anscheinend statt D-Mark einfach Euro hinter die Preise geschrieben worden sei, nein, auch sonst stimme das Preis-Leistungs-Verhältnis hier über haupt nicht. Moussaka für 19 Euro. Das seien 38 Mark für eine Schüssel Kartoffeln mit Auberginen. Das könne Mama zu Hause viel billiger und auch noch besser zubereiten. Mein Vater gehört nicht zu den Menschen, die nur dann glauben, ein Restaurant sei gut, wenn die Menüs so richtig teuer sind. Und meine Mutter pflichtet ihm bei. Auch die alte Geschichte mit dem Tütenwein von Aldi, den sie in eine Flasche einer Edelmarke umgefüllt hat, als Dr. Schreinert zu Besuch war, hat meine Mutter wieder einmal parat. »So ein edles Tröpfchen«, habe Dr. Schreinert damals gesagt, »da sieht man gleich, wer Geschmack
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