Alice at Wonderland
Die ist jetzt in New York. Und wir können hier zwei Wochen Schulung machen. Nerv!«
Das war's. Ich sitze in der Falle. Mit Mühe und Not er reiche ich mein Zimmer. Durch den Spion in der Tür sehe ich, wie die Kollegen die umliegenden Zimmer auf demselben Flur beziehen. Ich bin gefangen. Der Tag vergeht, und jeder Versuch, mich heimlich aus meinem Zimmer zu stehlen, wird vereitelt. Immer wieder biegt jemand aus der Schulungsgruppe in den Gang ein oder kommt aus dem Fahrstuhl. Es sind einfach zu viele.
Ich beschließe einen weiteren Fluchtversuch im Schutz der Dunkelheit. Bis dahin kann ich mich ausruhen. Ein Anruf der Rezeption schreckt mich um drei Uhr hoch. Ich muss wohl eingeschlafen sein. Egal. Jetzt gilt es, keine Zeit zu verlieren. In Windeseile schlüpfe ich in meine Sachen und schleiche mich aus der Suite. Der Gang liegt ruhig da und ist spärlich von den Notlichtern über den einzel nen Zimmern erhellt. Aus dem einen oder anderen Raum ist gleichmäßiges Schnarchen zu vernehmen. Sonst ist es still. Nur noch wenige Meter bis zum Fahrstuhl. Mit dem Rücken an die Wand gepresst drücke ich mich am Zimmer meines Chefs vorbei. Ich wage kaum zu atmen. Die letzten zwei Meter bis zum Fahrstuhl kommen mir wie eine Ewigkeit vor. Die Leuchtleiste über den schweren Stahltüren zeigt das E für Erdgeschoss. Immer wieder den Blick in den hinter mir liegenden Flur wendend drücke ich den Fahrstuhlknopf. Der Lift setzt sich in Bewegung. Erster Stock, sagt mir die Leuchtanzeige. Zweiter, dritter, vierter. Nur noch wenige Sekunden. Fünfter Stock. Mein Gott, das dauert! Anscheinend hält er in jeder Etage. Komm schon, komm schon! Plötzlich wird hinter mir im Gang eine Tür geöffnet. Ich höre die Stimme eines Kolle gen, der sich wohl mit einem anderen Seminarteilnehmer über dessen Minibar hergemacht hat. Ich schaue mich um. Ein großer Blumenkübel auf dem Gang ist das einzig mög liche Versteck. Aber viel zu weit weg. Der Kollege will sich verabschieden, und aus dem Zimmer höre ich: »Na komm schon, einen können wir noch!«
Genau, denke ich, einer geht noch, einer geht noch rein.
»Nee, lass mal. Wir müssen morgen früh raus!«
Ausgerechnet jetzt so viel Disziplin, aber in der Firma prahlen, dass man jede Nacht durchgemacht hat. Ich bin enttäuscht. Da setzt sich der Fahrstuhl wieder in Bewe gung. Schneller, flehe ich. Und endlich. Pling. Die Sechs leuchtet auf und die Tür vom Lift öffnet sich. Kontrol lierender Schulterblick. Das erste Bein hat mein Kollege bereits in den Flur gesetzt. Okay. Rein in den Fahrstuhl und ich bin in Sicherheit...
»Ladys and Gentlemen, this is your captain speaking. In wenigen Sekunden erreichen wir die Love-Suite, bit te lassen Sie alle Hemmungen fallen!«, klingt eine nasale Stimme aus dem Aufzug. Mr. Vielflieger beugt sich über ein junges Mädchen im Lederrock und gibt ihm einen leidenschaftlichen Kuss. Ich bin in der Zwickmühle. In den Fahrstuhl kann ich nicht, und jede Sekunde wird der Typ sich umdrehen. Doch sein Sabberkuss hält an. Meine Chance. Ich drehe mich um und renne so schnell es geht zurück zu meiner Suite. Meinem Kollegen verpasse ich im Vorbeilaufen einen Stoß, sodass er bäuchlings ins Zimmer fällt. Als er sich hochrappelt, habe ich bereits die nächste Ecke erreicht und bin außer Sichtweite. Noch ein Hechtsprung und ich bin an meiner Zimmertür. Mehrfach fällt mir die Magnetkarte aus der Hand, während sich Mr. Vielflieger und Pretty Woman nähern. In letzter Sekunde springt die Tür auf, und ich verschanze mich in meinem Zimmer. Wow. Das war knapp.
Auch in den nächsten drei Tagen scheitern meine Fluchtversuche kläglich, und ich finde mich damit ab, meine Strafe abzusitzen. Gott sei Dank habe ich Internet-Zugang im Zimmer und kann mir jede Menge nützliche Informationen über New York runterladen. Falls mich im Büro jemand danach fragt. Und über eBay lassen sich die herrlichsten Souvenirs ersteigern. Eine Freiheitsstatue aus
Plastik, ein T-Shirt mit dem Aufdruck »I love 42nd Street« und sogar ein Stück vom World Trade Center mit Echtheitszertifikat. Das hat sich unser Praktikant gewünscht, um das Gespür für die Tragik des 11. September zu be kommen. Ansonsten sehe ich viel fern und schlafe bis in die Puppen.
Das Zimmermädchen stellt mir alle drei Tage eine neue Flasche Jose Cuervo in die Bar, und bei gutem Wetter kann ich von meiner Suite aus den Fernsehturm sehen. Alles perfekt.
An meinem ersten Arbeitstag nach dem Urlaub bin ich gut
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