Alice at Wonderland
beeindruckt er durch die sensationelle Fähigkeit, sich unsichtbar machen zu können, sobald im Haus technische Probleme auftreten. Neben ihm wohnt eine Kleinfamilie mit einem zwölfjährigen Bengel, der es immer noch brüllkomisch findet, Silvesterknaller in die Briefkästen zu werfen. Außer an Silvester. Da wirft er sie mit Vorliebe in offene Fenster. Als Nächste kommt eine ältere Frau, die mal lange Zeit in Afrika gelebt haben muss. Bei unserem bisher einzigen Zusammentreffen im Hausflur hat sie mir ohne jede Ver anlassung erzählt, dass der Präsident von Burundi seinen
Kaffee mit viel Milch trinkt. Wie sie ihren nimmt, weiß ich nicht.
Dann ein junges Pärchen, das so leise umeinander schleicht, als berührten sie dabei nicht einmal den Boden. Ein etwas älteres Pärchen, das umso mehr Radau verbrei tet, vorzugsweise mit Hilfe ihrer Dolby-Surround-Hi-Fi- Anlage. Von denen ist mir zumindest der Musikgeschmack bekannt und dass der Typ beim Mitsingen nicht eine Note trifft. Und sie quäkt immer dazwischen, dass er damit auf hören soll. Oder sie versucht, parallel ein völlig anderes Lied zu singen. So genau ist das nicht auszumachen. Dann ein griechisches Ehepaar. Oder zwei. Oder drei. Manch mal herrscht in der Wohnung ein Betrieb wie auf dem Hauptbahnhof, und dann ist wieder tagelang Funkstille, als seien die Bewohner, wie viele auch immer, kollektiv ins Koma gefallen.
In die Wohnung direkt neben mir ist kürzlich ein al lein stehender Mittvierziger eingezogen, Typ Gymna siallehrer für Deutsch: Bis jetzt beschränkte sich unsere Konversation auf dreimal »Guten Morgen«. Und heute, als ich nach Hause zurückkehre, kommt noch ein »Gu ten Abend« hinzu. Wir haben gleichzeitig den Hausflur betreten und stapfen schweigend die Treppe hoch. Er hat mir den Vortritt gelassen, vermutlich, um in Ruhe meinen Hüftschwung begutachten zu können. Jedenfalls hätte ich das bei ihm gemacht, wenn er vorausgegangen wäre. Stumm drei Stockwerke hintereinander hochzulaufen ist mir unangenehm. Andererseits wird eine Unterhaltung auch schnell lächerlich, wenn sich das Gesicht des Gesprächspartners auf Höhe meines Beckens befindet. Er bemüht sich nicht einmal, die Situation mit einem verle genen Treppensteigen-Witz aufzulockern. Wahrscheinlich unterrichtet er gar nicht Deutsch, sondern Chemie. Ein Menschenschlag, der auf der Humorskala in der Region von Angela Merkel angesiedelt ist.
Auf unserer Etage angekommen, stelle ich fest, dass mir
jemand ein Präsent vor die Tür gestellt hat. In Geschenk papier eingewickelt, der Form nach eine Flasche Sekt oder so was. Am Hals baumelt ein kleines Briefchen und ver ziert ist das Arrangement mit einer champagnerfarbenen Lilie. Der Chemielehrer wirft einen neidischen Blick dar auf, zögert kurz, verzieht sich aber dann wortlos in seine Wohnung, mit einem Lächeln zum Abschied, das er wohl nur unter Androhung von Waffengewalt in sein Gesicht gezwungen hat. Der taut wohl erst nach der nächsten Eis zeit auf. Eigentlich würde ich mich als kontaktfreudigen Menschen bezeichnen. Aber Typen wie dieser machen mich dann doch beklommen. Bei denen bekommt man ja vom Händeschütteln schon Frostbeulen.
Ich stelle das Präsent auf den Küchentisch und stecke die Lilie in eine schlanke Vase, wie geschaffen dafür. Ob das von Alex ist? Meine Adresse hab ich ihm ja gegeben, damit er mir das Kochbuch schicken kann. Ist er heute extra nochmal vorbeigehuscht, um mich zu überraschen? Er scheint unser Treffen ja kaum abwarten zu können. Nur mit Mühe widerstehe ich der Versuchung, das Brief chen zu öffnen. Es ist feierlicher, es bei einem Gläschen zu lesen. Ich reiße das Geschenkpapier herunter. Hat sich richtig ins Zeug gelegt, der Gute. Das ist nicht so ein billiges Papier aus einem Büroartikelladen. Danach muss man richtig suchen. Und erst die Flasche. Es ist Wein. Ich bin jetzt nicht so die Weinkennerin. Ich kann geschmacklich gerade einen Burgunder von einer Tasse Tee unterschei den. Aber das Etikett auf der Flasche ist von derart ele gantem Understatement, dass selbst ein Vollbanause den Inhalt spontan in die gehobene Mittelklasse einordnen kann. Ein sechzehn Jahre alter Bordeaux. Ich öffne ihn, schenke mir ein Glas ein und probiere. Der Geschmack ist umwerfend. Sofort habe ich den Eindruck, bis zu diesem Augenblick noch nie Wein getrunken zu haben. Die Fla sche muss sündhaft teuer gewesen sein.
Bevor ich darüber nachdenken kann, was Alex wohl zu diesem Geschenk veranlasst haben
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