Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt
nicht, dass er aufwacht und sieht, dass wir ihn hierher gebracht haben. Wir bringen ihn einfach nach Hause. Es riecht nach Tod hier.“
Alice zuckt die Achseln und geht weiter. Der ganze Laden ist eine einzige, riesige Charya-Station, denkt sie. Ihr fällt ein, dass Schwester Hina Alvi genau das Gleiche gesagt hat, und sie muss lächeln.
Als sie sich der Charya-Station nähert, wird ihr bewusst, dass die üblichen Gerüche – nach Desinfektionsmittel, Alkohol, getrocknetem Blut und Essensresten – allmählich nachlassen. Ihr Blick fällt auf tote Pflanzen in angeschlagenen Töpfen und auf Moos, das sich in den rissigen Wänden angesiedelt hat. Ein Farbpfeil an der Wand zeigt in Richtung der Station. „Zentrum für psychische und geistige Erkrankungen“, steht dort auf Urdu und auf Englisch. Ein fast verblichener Satz darunter erinnert die Besucher daran, den Insassen keine Zigaretten, Drogen oder Lebensmittel mitzubringen und dass allein sie selbst die Haftung für ihre Habseligkeiten zu übernehmen haben. Alice hat nun den Gang eines Menschen, der seine Furcht durch forsches Ausschreiten zu bezwingen versucht. Durch eine Schwingtür betritt sie die staubige und verlassene Station. Nicht nur war seit Tagen niemand vom medizinischen Personal dort, auch die Reinigungskräfte haben ihre Arbeit eingestellt. Jemand hat „I love my Psychology“ an eine der schmutzigen Wände gekritzelt. Eine Seitentür steht halb offen. Der Raum dahinter ist feucht und modrig, und sie braucht eine Weile, um den Geruch zu erkennen. Es riecht wie beim Friseur im Sommer. Die gepolsterten und mit Kunstleder bezogenen Wände sind zerfressen und zerkratzt, nur hier und da hängt noch ein Streifen Schaumgummi herunter, was ihrem Anblick etwas Lepröses verleiht. Alice entdeckt eine Art Vogelnest in einer Ecke und geht darauf zu. Kaum hat sie sich gebückt, um es näher zu betrachten, fährt sie auch schon zurück und rennt aus dem Zimmer. Sie hat schon einige Monstrositäten in ihrem Leben gesehen, aber ein fußballgroßes Nest aus grauem Menschenhaar, in dem eine lebende Ratte hockt, gehört nicht dazu. Das Tier huscht mit argwöhnisch funkelnden, roten Augen über den Boden davon.
„Hier entlang, Schwester.“ Ein alter Mann steckt den rasierten Kopf durch die Doppeltür. Er legt einen Finger auf die dünnen Lippen und winkt ihr. „Überraschen Sie sie“, flüstert er. „Offenbaren Sie sich.“
Alice Bhatti blickt auf ihre beiden Schlüssel und bemüht sich, ihre Nervosität hinter einem möglichst höflichen Lächeln zu verbergen. Das Klemmbrett wie ein Schild vor sich haltend, nickt sie dem Alten wohlwollend zu, wie ein Staatsoberhaupt dem Zeremonienmeister, bevor es die Ehrengarde abschreitet.
Die Tür schwingt auf, und sie stehen vor ihr: ein Dutzend Männer, in drei unordentlichen Reihen statt in einer ordentlichen, die Hände vor dem Schritt gefaltet, die Köpfe gesenkt. Sie mustern Alice und blicken dann an ihr vorbei. Als sie sehen, dass niemand bei ihr ist, zerstreuen sie sich. Es scheint fast, als hätten sie eine wichtige Persönlichkeit erwartet und wären nun, nachdem sie erkannt haben, dass sie eine einfache Krankenschwester und ganz allein ist, enttäuscht, aber auch erleichtert.
„Wir wussten, dass Sie kommen. Man hat es uns angekündigt.“ Ein verhutzelter Alter humpelt in eine Ecke, zieht seine Hose aus und schreit plötzlich wie am Spieß: „Dard aur, dawa aur, dard aur, dawa aur!“ – mehr Schmerz, mehr Medizin.
Ein anderer geht auf ihn zu und ohrfeigt ihn. „Keine Muttersprache hier! Hast du eine Mutter dabei? Na also. Was jammerst du dann in deiner Muttersprache?“
„Man hat uns gesagt, dass Sie kommen“, sagt ein großer Mann mit buschigem Schnurrbart und einem türkisfarbenen Taschentuch um den Hals. „Vor sechs Monaten schon. Sie haben sich verspätet. Aber jetzt sind Sie ja hier.“
Er geht auf die Knie und wirft sich vor ihr nieder wie zum Gebet in der Moschee. Alice Bhatti hat diese Geste schon häufig auf dem offenen Gebetsplatz des Herz Jesu gesehen, und sie war ihr stets etwas lächerlich vorgekommen. Den Hintern in den Himmel zu recken, hat sie noch nie für einen geeigneten Beweis für Frömmigkeit gehalten. Aber wahrscheinlich war es eben das Beste, was manche zu bieten hatten. Es gab auch Menschen, die auf Knien durch Nazareth rutschten. Jedem das Seine, findet sie. Nicht, dass man das öffentlich sagen und damit rechnen könnte, zu überleben. Der Zorn von Gottes Häschern konnte
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