Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt
die Schublade. „Den anderen behältst du. So, ich lasse mich jetzt enthaaren. Solltest du dich auch mal dazu entschließen, sag mir Bescheid. Beim ersten Mal kriegst du’s umsonst.“ Sie zwinkert, strahlt Alice an und stolziert Handtasche schwingend davon – Königin einer Welt von Kranken und Geisteskranken.
Alice will ihr folgen, bleibt dann aber in der Tür stehen, um die Liste zu lesen. Bis auf die Spalte für die Medikamente ist sie leer. Offenbar bekommt jeder Patient pro Tag eine Dosis von 600 Milligramm Lithiumsulfat. Zumindest herrscht Gleichbehandlung, denkt sie.
Sie schaut bei Noor im Büro vorbei, wo er wie üblich über seinen Ordner gebeugt vor sich hinkritzelt. „Und wen entlassen wir heute?“, fragt sie. Er schaut auf und lächelt ihr flüchtig zu. Alice sieht Noor noch immer als den Jungen in zerrissenen Shorts vor sich, der den Frauen in der Besserungsanstalt Zigarettenkippen verkaufte und dann mit einer halben Banane oder einer Scheibe Toast mit ein bisschen Butter zu Zainab lief. Anschließend saßen die beiden in einer Ecke und spielten das „Nein, iss du, ich hab schon“-Spiel.
„Ich muss Lithiumsulfat für die Psycho-Station bei dir holen“, sagt Alice Bhatti, sich mit dem Klemmbrett Luft zufächelnd.
„Kein Problem“, sagt Noor, den Kopf im Ordner vergrabend. „Der Putzmann soll es hinbringen. Das machen wir immer so. Eine anständige Frau wie du hat dort nichts zusuchen.“
Alice Bhatti weiß nicht, ob er sie auf den Arm nehmen oder ihr etwas über das Herz Jesu mitteilen will, von dem sie noch keine Ahnung hat.
„Ich bin im Dienst, junger Doktor-Sahib. Oberschwester Hina Alvi hat mich schon eingewiesen.“
„Schwester Hina Alvi erwartet wohl kaum, dass du tatsächlich auf die Charya-Station gehst“, sagt Noor streng, fast als würde er sie zurechtweisen. „Es sei denn, sie will dir eine Lektion erteilen. Wenn ich du wäre, würde ich da nicht allein reingehen.“ Alice Bhatti ärgert sich plötzlich über diesen Bengel, der sich ständig aufführt, als gehöre ihm das Krankenhaus. Ein Laufbursche bleibt immer noch ein Laufbursche, auch wenn er glaubt, die ganze Welt dreht sich um ihn, denkt sie.
„Ich sitze wenigstens nicht den ganzen Tag herum und schreibe irgendwelchen Quatsch. Ich habe mit lebenden Patienten zu tun.“ Sie klopft auf ihr Klemmbrett. „Diese Leute sind noch nicht tot.“
Sie verlässt den Raum, ohne Noors schwachen Einwand zu beachten. „Ich meine doch nur, du solltest nicht allein hingehen. Nimm jemanden mit.“
„Und wer sollte das sein?“, schreit sie ihn an, ehe sie davongeht.
Auf dem Weg zur Charya-Station kommt ihr eine gut gekleidete Frau entgegen, die einen Schirm über eine Rollbahre hält. Sie hält sich den Schleier vor die Nase gezogen und ihr Blick ist der eines Menschen, der in einem prächtigen Garten lustwandelt, um Zugvögel zu beobachten. Sie sieht aus wie eine Frau, die vielleicht einmal reich gewesen ist oder zumindest zu wohlhabend, um im Herz Jesu zu landen. Eine Frau, die es gewöhnt ist, bedient zu werden, und die darauf achtet, dass die Dienstboten den Tee von der rechten und unter gar keinen Umständen von der linken Seite einschenken. Auf der Bahre liegt ein alter Mann in tiefem Schlaf. Aus drei seiner Körperöffnungen ragen Plastikschläuche. Auf seinen aufgesprungenen Lippen unter der geborstenen Sauerstoffmaske sprudelt ein bisschen Schaum. Der Frau ist es peinlich, hier zu sein, und ihre Scham scheint die Bahre mit einer unsichtbaren Barriere zu umgeben. Die Leute, die durch den Gang gehen, sehen den Schirm, wittern die Geringschätzung der Frau und treten beiseite.
Alice bemerkt die Barriere nicht, die die Frau um sich und den Mann auf der Bahre errichtet hat, und tritt auf sie zu. „Kann ich Ihnen helfen?“, fragt sie. „Was wollen Sie denn mit dem Schirm?“ Die Frau starrt sie voller Entsetzen an, als hätte sie im Leben nicht damit gerechnet, angesprochen zu werden. Dann folgt Alice ihrem Blick zur Decke und sieht einen feuchten Fleck, der an die Karte eines Landes im Umbruch erinnert. In regelmäßigen Abständen löst sich ein dicker, milchiger Wassertropfen daraus. „Ah, ja, die Toilette auf der Säuglingsstation läuft über. Keine Sorge, ich habe es schon gemeldet.“ Sie greift nach der Bahre. „Kommen Sie, wir brauchen ihn nur etwas zur Seite zu schieben.“
„Nein“, ruft die Frau und bedeckt den Mund mit dem Dupatta. Dann bricht sie in geziertes Schluchzen aus. „Danke. Ich möchte
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