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Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt

Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt

Titel: Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mohammed Hanif
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verlierst, ist egal.“
    Während Noor ihren Worten lauscht, betrachtet er ihren Arm, der oberhalb des Ellbogens weiß und fleischig ist und braun und dürr darunter. Er würde gerne beide Teile berühren, um herauszufinden, ob sie sich unterschiedlich anfühlen.
    „Warum kann man nicht machen, dass sie ein bisschen länger leben?“, fragt er. „Ich meine ja nicht für immer, niemand lebt ewig, aber wenn sie die richtigen Medikamente bekommen und die richtige Nahrung, sollten sie doch zumindest ein paar Monate mehr haben.“ Noor wendet den Blick ab. Er denkt wirklich über diese Frage nach, schon seit Tagen, aber der Umstand, dass Alice mit ihrer Schwesterntracht auch ihren BH abgelegt hat, wirft ihn aus der Bahn.
    Noor fühlt sich geborgen und erregt zugleich. Die Situation ist angenehm und verwirrend. Früher hatte er sich öfter gefragt, ob vielleicht der Teufel, vor dem Dr. Pereira ihn ständig warnte, von seinem Körper Besitz ergriffen habe und dieses Prickeln in seinen Lenden ein Werk des Bösen sei. Inzwischen weiß er, dass er einfach nur erwachsen wird. Teddy hat ihn aufgeklärt, dass ein Mann, der neun Sekunden lang nicht an eine Frau denke, vermutlich kein richtiger Mann sei, und behauptet, das hätten sie im Fernsehen gesagt.
    „Auch beim Essen oder beim Pinkeln?“, hatte Noor entgeistert gefragt.
    „Ich glaube, sie meinen, dass du an die Körperteile von einer Frau denkst, nicht an die ganze Frau. An ihren Mund vielleicht oder ihr Haar“, sagte Teddy.
    „Ja, dann weiß ich, was die meinen. Neun Sekunden sind sogar ziemlich lange. Ich denke eigentlich die ganze Zeit daran“, hatte Noor geantwortet.
    Alice dreht sich zu ihm und stützt sich auf ihren Ellbogen. „Sei nicht kindisch.“ Ihre rechte Brust bewegt sich und fällt über die linke. Sooft Noor in der ganzen Zeit an sie gedacht hat, ist er doch niemals auf die Idee gekommen, dass ihre Brüste sich aneinanderschmiegen könnten wie zwei ausgesetzte Welpen, die sich irrtümlich gegenseitig für ihre Mutter halten.
    „Jeder stirbt anders“, sagt sie mit der Miene eines erfahrenen Chirurgen bei der Auswahl des passenden Skalpells. „Richtig übel dran sind die TB-Patienten. Das ist, als würde ein feiner Seidenschal durch ein Dornengebüsch gezerrt. Ihre Seele geht dabei völlig in Fetzen.“ Schweißrinnsale durchziehen den Talkumpuder Marke Tibet in ihrer Achselhöhle. Ihr Zeigefinger, mit dem sie kurz zuvor eine ihrer Locken aufgewickelt hat, beschreibt behutsam einen Kreis auf Noors Brust. „Das Herz“, sagt sie. „Wer ein krankes Herz hat, hat Glück. Es bleibt stehen, versucht noch rasch, wieder in Gang zu kommen, und dann ist man tot.“ Sie lässt sich zurück auf die Liege fallen, und ihre Brüste nehmen wieder ihre ursprüngliche Position ein.
    Alice erscheint Noor wie das Gegenteil des Todes. Etwa neun Sekunden lang denkt er weder an eine Frau noch an einen ihrer Körperteile.
    Er setzt sich zu ihr. Die Bahre schwankt und quietscht, als sie sich ihm wieder zuwendet. Noor spürt die ausgesetzten Welpen an seinem Hinterteil.
    „Und was tut man, wenn man erfährt, dass es bald so weit ist? Was sagt man den Leuten?“
    Sie zuckt mit geschlossenen Augen die Schultern. „Ich schalte den Tropf ab, den Sauerstoff, die Blutzufuhr oder an welche Geräte auch immer sie angeschlossen sind. Es ist Verschwendung, wenn jemand sowieso stirbt.“
    „Sprichst du nicht mit ihnen? Fragst sie, ob sie einen letzten Wunsch haben? Oder schreibst ihre letzten Worte für ihre Familie auf?“
    Sie öffnet die Augen und mustert Noor, als hätte er eine Sexualpraktik vorgeschlagen, von der sie noch nie gehört hat.
    „Weißt du, was sie mir in diesem Krankenhaus zahlen?“
    Noor schämt sich. Als hätte er ihr vorgeworfen, ihre Arbeit nicht richtig zu tun.
    „Es ist nicht so, als würden sie mich in ihrem Testament bedenken.“ Sie seufzt. „Manchmal lese ich die Kalima , wenn ich den Eindruck habe, sie hätten es gern, oder wenn sie mich darum bitten. Oder überhaupt, wenn sie vollkommen benommen sind, denn ich weiß, dass sie mich darum bitten würden, wenn sie reden könnten, und glauben, dass sie sterben müssen.“
    „Du kannst die Kalima?“, fragt Noor. Er findet es deprimierend, dass dieses katholische Mädchen, das alle Muslime und die meisten ihrer katholischen Vettern hasst, Sterbenden die Kalima rezitiert.
    „Natürlich, Dummkopf. Ich kann eine Menge, was du nicht kannst. Aber du wirst alles noch lernen.“
    Alice dreht sich auf die

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