Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt
Schüsse auf der Straße hören. Sie werden von Bombenanschlägen angezogen wie Fliegen von einer verfaulten …“ Normalerweise fällt ihr dann eine jahreszeitliche Frucht ein, mit der sie ihre Analyse des nationalen Gesundheitszustandes beschließt. Heute jedoch scheint sie in großmütiger Stimmung zu sein. „Die Jungs auf der Charya-Station leiden unter der Krankheit, unter der wir alle leiden: dem Leben. Sie nehmen es nur ein bisschen ernster. Die meisten gehören zu diesem sensiblen Typ, der zu viel denkt, sich alles zu Herzen nimmt und über schlechte Witze nicht lachen kann. Ansonsten gelten für sie die gleichen Regeln wie für alle anderen. Nicht anfassen lassen und keine Auskünfte über die eigene Person geben. Manche sind etwas redselig und anschmiegsam. Und auch wenn du nicht wie jemand aussiehst, der mehr Liebe braucht“ – Schwester Hina Alvi mustert Alice von oben bis unten, wie um abzuschätzen, was die richtige Dosis Liebe für sie wäre –, „sind manche ja unersättlich. Aber selbst wenn du sie noch so dringend brauchst, du wirst dort keine finden. Denk dran, wir nennen sie nicht umsonst Bekloppten-Station.“ Sie öffnet ihre Handtasche und nimmt ein herzförmiges, rotes Beutelchen hervor und beginnt, ein Paan vorzubereiten. „Wenn du mich fragst, ist sowieso das ganze Land ein Irrenhaus. Kennst du die Geschichte Toba Tek Singh von Saadat Hasan Manto? Aber hier liest ja niemand mehr. Manto hat über die Irren auf einer Charya-Station geschrieben, und am Ende ist er selbst dort gelandet. Seine eigene Familie hat ihn eingewiesen.“ Sie zählt drei silberüberzogene Betelnussstücke ab, legt sie auf ein Paan-Blatt, wickelt sie hinein und schiebt sich das Päckchen in den Mund.
Alice fällt auf, dass Schwester Hina Alvi nie jemandem von ihrem Paan anbietet. Sie ist den ganzen Tag mit Patienten und Ärzten zusammen, aber ihre Freuden behält sie für sich. Sie ist stets erleuchtet von persönlicher Einsicht, zufrieden in einer Welt, die nur für sie einen Sinn ergibt, glücklich in dem Wissen, niemandes Bestätigung zu brauchen. „Ich weiß nicht, ob du mal einen Psycho-Kurs gemacht hast, aber eigentlich gibt es nur eine Faustregel, an die du dich halten musst: immer sagen, dass das alles normal ist. Auch wenn einer seine eigene Schwester gevögelt und sie dann lebendig begraben hat, musst du sagen, das sei völlig normal. Natürlich hat er es auf Geheiß irgendeines Gottes getan. Klar findet man so was nicht normal, weder dass einer so etwas tut, noch dass sein Gott es von ihm verlangt. Aber auf der Station musst du so tun, als ob. Mehr brauchst du über psychiatrische Betreuung nicht zu wissen.“ Schwester Hina Alvi zieht ein limettengrünes Taschentuch aus ihrem Beutel, wischt sich sacht über die Lippen und inspiziert es dann nach Spuren. „Rauchst du?“
Die Frage überrascht Alice. In der Besserungsanstalt hat sie behauptet, hin und wieder eine Bidi zu rauchen, um die Achtung ihrer Mitinsassinnen zu gewinnen. „Nein“, sagt sie. „Ich habe es in der Schule probiert, aber mir ist schlecht geworden.“
Schwester Hina Alvi schenkt ihr ein verschwörerisches Lächeln, als hätten sie nun ein Geheimnis. „Jedes Mädchen tut irgendetwas Verbotenes. Ernsthafte Sorgen mache ich mir nur um die, die behaupten, sie täten gar nichts. Und um die, die wirklich nichts machen. Meist bekommen sie am Ende etwas Schlimmeres als Krebs.“
Alice Bhatti kommt sich vor, als wäre sie wieder in der Besserungsanstalt und würde beschuldigt, nicht Frau genug zu sein. Könnte sie sich nur ausziehen und Schwester Hina Alvi die Narbe von dem Messerstich an ihrer Schulter zeigen oder ihr erzählen, dass sie eine Wärterin in den Unterleib getreten hat, weil diese die Angewohnheit besaß, die Stifte der Mädchen auf die Erde zu werfen, sodass sie ihnen, wenn sie sich bückten, in den Ausschnitt glotzen konnte. Vielleicht ein anderes Mal.
Alice Bhatti wirft einen Blick auf das Klemmbrett – eine Standardliste mit Standardnamen. Nichts deutet darauf hin, dass diese Menschen auf der anderen Seite lebten. Sechs Mohammeds, drei Ahmeds, zwei Alis. „Wer löst mich nach der Schicht ab?“, fragt sie gut gelaunt, als würde sie sich wirklich auf den Anfang und das Ende ihrer Arbeit freuen. Schwester Hina Alvi zieht einen Schlüsselbund hervor und reicht ihr zwei besonders klobige Exemplare. „Du schließt die Tür ab und schließt dann den einen Schlüssel in diese Schublade ein“, sagt sie und klopft auf
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