Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt
falsch daran, fünfhundert dafür zu nehmen, dass man ihn nicht aufschlitzt? Wollen sie eine Obduktion? Nein. Haben sie Interesse an der Todesursache? Nein. Spielt es eine Rolle für sie, ob zuerst ihre Lunge oder ihr Herz schlapp gemacht hat? Ihre Todesursache ist der Tod. Sie sind gestorben, weil er nach Garden East kam, als sie zufällig gerade dort ihr Gemüse kauften. Mithin kann der Einkauf von Gemüse ebenso als Todesursache gelten wie alles andere.“ Noor bekam natürlich nichts von dem Geld, aber immerhin spendierte man ihm ein Kebab mit Brötchen, eine Dose Pepsi und eine große Schachtel Diazepam für seine Mutter. Überdies gelang es ihm, Alice Bhatti in der Schicht unterzubringen, da es an allen Ecken und Enden an Personal fehlte, und als er Dr. Malick sagte, er kenne eine Krankenschwester, die sich gerade zwischen zwei Stellen befinde, nickte dieser nur, bevor er sich dem nächsten Verletzten zuwandte.
„Du machst immer wieder hier und da eine Schicht“, flüsterte Noor Alice Bhatti aufgeregt ins Ohr. „Und ehe sie es merken, bist du fest angestellt.“ Sie standen zwischen drei Jutesäcken mit Körperteilen, die weder identifiziert nocheinem der Verstorbenen zugeordnet werden konnten.
Es ist früh am Morgen. Allmählich regen sich die ambulanten Patienten im Hof und beziehen die vorderste Stellung vor den vergitterten Schaltern, direkt unter den Verbotsschildern, die Spucken, Kauen von Paan, tätliche Angriffe auf das Krankenhauspersonal und politische Diskussionen für strafbar erklären. Viele haben die Nacht neben einem der Schalter verbracht und gähnen noch unter ihren dünnen, abgetragenen Shawls . Die mit ihren Familien unter dem Old Doctor lagernden Patienten haben ein paar Äste von dem alten Baum abgerissen und Feuer für ihr Frühstück gemacht. Sie erinnern an eine Lumpenarmee, die sich verirrt hat und der nun die Vorräte ausgehen. Ein Heer, das sich nicht entscheiden kann, ob es die Burg belagern will, bis Verstärkung kommt, um dann den letzten Angriff auszuführen, oder einfach auf einen Hinterhalt wartet, um von ihrem Elend erlöst zu werden. Gegen diese Feuer muss man unbedingt etwas unternehmen. Noor, der sich zu Dr. Pereiras Gesundheits- und Sicherheitsberater ernannt hat, macht sich im Kopf eine Notiz.
Ihm fällt auf, dass der Kleintransporter der Polizei noch immer vor der Notaufnahme parkt. Eine Gruppe Polizisten steht mürrisch und wie in Erwartung schlechter Nachrichten herum. Teddy Butt sitzt mit einem riesigen Verband um den Daumen hinten im Wagen. Er wirkt benommen und reagiert nicht, als Noor ihm zuwinkt.
Der Rechtsmediziner Dr. John Malick kann sich anscheinend nicht entschließen, nach Hause zu gehen, obwohl seine Nachtschicht beendet ist. Er steht vor seinem Büro und schaut in die Sonne, die sich vergeblich bemüht, durch den morgendlichen Smog zu dringen. Vielleicht beschwert er sich bei ihr, weil sie zu früh aufgeht. Es ist, als hätte er massenweise Dinge zu tun, die nur nachts erledigt werden können und nun bis zu seiner nächsten Nachtschicht warten müssen. Dr. Malick gehört zu den Ärzten, die tatsächlich glauben, sich selbst heilen zu können. Er zieht immer dieses Gesicht, wenn seine Dienstzeit endet, bevor es ihm gelungen ist, seine nächtliche Flasche Murree’s zu leeren.
„Na, hat deine Knastbraut den Job gekriegt?“, ruft er Noor zu und unterdrückt ein Gähnen.
„Ja, hat sie“, ruft Noor zurück. „Zumindest vorübergehend. Aber das haben Sie nicht von mir. Und kümmern Sie sich bitte um meinen Freund Teddy. Er hat sich schon wieder verletzt.“
„Meinen Glückwunsch. Alle Knastis landen am Ende bei uns“, ruft Dr. Malick.
vier
Alice Bhatti macht ihren ersten Besuch auf der Charya -Station allein, wird sie aber bereits nach anderthalb Stunden schreiend und um sich schlagend auf Teddys Armen wieder verlassen. Niemand warnt sie vor dem, was sie in dieser von der Welt vergessenen Klapsmühle erwartet. Es gibt keinebehutsame Annäherung, keine Besichtigung, keinerlei Einführungskurs. Es ist ein ruhiger Montag, und Schwester Hina Alvi drückt ihr ein Klemmbrett mit ausgefransten, wie angenagt wirkenden Blättern in die Hand. Schwester Hina Alvis Erläuterungen sind von Offenheit, Toleranz, ja, fast Mitgefühl geprägt, was erstaunlich ist, denn meist vertritt sie die Ansicht, die Patienten seien selbst schuld an ihrem Schicksal. „Sie essen zu viel, sie trinken zu viel, sind zu lüstern und können nicht zu Hause bleiben, wenn sie
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