Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt
bereits geweckt werden, wenn man nur Erstaunen äußerte.
Sie spürt die Zunge des Mannes an ihren Zehen und will zurückweichen. Aber der Mann packt sie an den Knöcheln und reißt sie zu sich. Alice fliegt nach hinten durch die Luft, sodass ihr Klemmbrett an die Decke knallt. Ihr erster Gedanke gilt Schwester Hina Alvi. Wahrscheinlich bekommt sie einen Wutanfall, wenn sie die Tabelle nicht zurückbekommt! Verschwundene Dokumente erzürnen Hina Alvi noch mehr als Patienten, die sich in den Gängen des Herz Jesu entleeren. Alice hätte das Klemmbrett festhalten müssen, ganz gleich unter welchen Umständen. Sie hat das Gefühl, endlos lange in der Luft zu sein. Ganz plötzlich landet sie in den ausgebreiteten Armen zweier Männer. „Howzat!“, rufen sie. Wie zwei geistesgestörte Cricketspieler.
Sie heben sie hoch. Sie fühlt sich erhoben. Und sie hat Angst. „Herr. Yasu. Yasu. Rette mich.“
„Herzlich willkommen“, rufen sie. Alice spürt, dass sie auf einem Bett aus Händen liegt, von zwölf Männern getragen wird, die verschiedenen Ebenen der Hölle entstiegen zu sein scheinen. Sie kommt sich vor wie auf einer privaten Feierlichkeit. „ Ya , Alice! Ya, Bhatti!“, skandieren sie. Ein Neuankömmling schreit: „Tod Amerika!“ Als er merkt, dass er aus dem Rahmen fällt, schließt er sich den anderen an, wie ein Zuschauer einer vorüberziehenden Demonstration. Ihr Chor klingt dröhnend, zugleich aber auch beruhigend. Es ist eine tröstliche Erkenntnis, dass diese Menschen ihre Hilfe brauchen. Dennoch fühlt sie sich auf den Armen dieser zwölf Männer kurzzeitig wie ein Exemplar einer von der Wissenschaft noch unentdeckten Tierart.
Sie legen sie auf ein Bett ohne Laken. Das Molty-Foam-Etikett ist aufgeschlitzt, und schlammbrauner Schaumstoff quillt darunter hervor, der an das Fell eines toten Hundes erinnert. Die Männer beugen sich über sie und flüstern: „Sie weiß, wie wir leben und wie wir sterben. Sie weiß. Sie weiß.“ Sie sieht, dass einer der Männer sich wiederholt mit ihrem Stethoskop – ebenfalls Eigentum des Hospitals, für das sie verantwortlich ist – an die Brust schlägt.
„Lass das!“, schreit der Alte mit den heruntergelassenen Hosen in der Ecke, mit beiden Händen seine Schamteile bedeckend. Sein Gebiss ist halb zerbrochen, und seine geschwollene Zunge schlingert darin wie ein schläfriges Tier, das sich seinem Käfig zu entwinden versucht. „Du wirst dich verletzen. Willst du das?“, dröhnt seine Stimme durch den Raum. „Willst du dich verletzen? Das ist nicht gestattet. Sich selbst zu verletzen, ist gegen das Gesetz.“
Alice Bhatti sieht, wie Teddy, seine Junior-Mister-Faisalabad-Arme an den Körper gepresst, den Raum betritt. Er kneift die Augen zusammen. In dem T-Shirt mit abgerissenen Ärmeln, das seine mächtigen Schultern zur Geltung bringen soll, erinnert er an die Schaufensterdekoration eines teuren Metzgers. Am Daumen seiner linken Hand trägt er einen schmutzigen Verband.
Jetzt kommt der Ober-Charya, denkt Alice.
Sie hat ihn vor der Notaufnahme herumlungern sehen. Sie weiß, dass er als eine Art Schlepper für die Polizei und für den Rechtsmediziner arbeitet. Bisher hat sie ihn nie beachtet. Sie glaubt zu wissen, wer ihn mit dieser Rettungsmission betraut hat.
„Lasst sie in Ruhe!“, schreit er, aber es klingt nicht wie ein Befehl. Seine Stimme ist ein heiseres, leises Kreischen, so als hätte jemand seine Stimmbänder zusammengetackert. Alice Bhatti hat einige Geschichten über Frauen gehört, die in den Gängen des Herz Jesu zerstückelt, verbrannt worden oder einfach verschwunden sind, und gerade noch hatte Schwester Hina Alvi ihr gesagt, sie solle alles hier als völlig normal betrachten. Alice ahnt, dass sie diese zwölf Irren wahrscheinlich in Schach halten könnte, dieser turmhohe Klotz mit der komischen Stimme jedoch ihr wahrer Untergang sein wird.
„Sie wurde uns geschickt“, schreit der Mann mit dem türkisfarbenen Halstuch. Die Irren drängen sich hinter Alice zusammen. „Du kannst sie uns nicht wegnehmen. Sie wird sowieso wieder hergeschickt. Du wirst schon sehen, dass sie zu uns zurückkommt.“
„Unbefugten ist der Zutritt zu dieser Station verboten“, schreit Alice, als Teddy sie hochhebt. „Ich muss ihnen noch das Lithiumsulfat geben.“ Als Teddy sie aus der Station trägt, wird Alice Bhatti weiter von der Furcht beherrscht, ihre Aufgabe nicht ordnungsgemäß erfüllt zu haben. Am liebsten würde sie ihm die Augen auskratzen.
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