Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt
Sie strampelt und schreit, drischt mit den Fäusten auf ihn ein, versucht, ihm die Krallen ins Gesicht zu schlagen. Sie spuckt Gift und Galle, schreit Wörter, die in diesen Hallen bisher nur aus dem Mund von Insassen gehört wurden. Doch Teddy Butt schreitet ungerührt voran, den Kopf bald nach rechts, bald nach links drehend, um ihren Schlägen auszuweichen. Es sieht aus, als würde ein Vater mit seinem Sohn einen spielerischen Boxkampf ausführen. Die ganze Zeit schneidet Teddy Grimassen und pfeift ein fröhliches Lied: Wir sind eins unter dieser Fahne. Wir sind eins. Wir sind eins …
Teddy ist erstaunt, wie leicht sie ist, wie knochig. Er hat schon einige Männer getragen, aber die sind viel schwerer, selbst die jungen. Auch sie winden sich und betteln, dass man sie gehen lassen soll. Ihm ist, als könnte er Alice durch die ganze Welt tragen. Er spürt, dass sie ihm gesandt wurde, seinen schwärenden Daumen zu heilen. Alle Wunden zu heilen, die er in seiner Laufbahn wahrscheinlich erleiden wird. Aber sie braucht Fleisch auf den Rippen, denkt er. Verspürt den Wunsch, sie zu nähren. Und plötzlich hat er das Gefühl, wieder in die Schule des Glücks aufgenommen zu sein, aus der man ihn vor langer Zeit verwiesen hat.
fünf
Noor schleicht sich mitten im Dienst davon, um nach Zainab zu schauen. Ein Schwarm Fliegen umsummt ihr Gesicht, von denen zwei sich an einem Speicheltröpfchen in ihrem Mundwinkel laben. Er verscheucht sie mit dem Fächer auf ihrem Nachttisch, taucht ein Stück altes Verbandsmaterial in eine Schüssel und wischt Zainab die Lippen, das Kinn und den faltigen Hals. Ihre Stirn ist kühl und ihre für gewöhnlich im Schlaf flatternden, grauen Wimpern sind völlig reglos. Noor wirft den Lappen in einen Mülleimer. Als er sich ihr wieder zuwendet, sieht er eine Fliege auf der Oberlippe von Zainabs leicht geöffnetem Mund sitzen. Er will sie beiseiteschnippen, ohne das Gesicht seiner Mutter zu berühren, aber die Fliege krabbelt in ihren Mund, und Zainabs Lippen schließen sich. In einem Anflug von Panik überlegt Noor, ob er ihr die Nase zuhalten soll, damit sie den Mund öffnet und die Fliege entwischen kann. Die Nase über den runzligen Lippen und Wangen ist jung und glänzend, wie im Nachhinein dorthin transplantiert. Als Noor die Nase berührt, teilen sich Zainabs Lippen, und die Fliege entweicht im Kreiselflug. Zainab schlägt die Augen auf, und das Weiße darin blitzt ein wenig, als würde sie Noor auslachen und fragen: „Du dachtest wohl, ich wäre tot?“
Noor legt ihr ein Stück weiße Gaze über das Gesicht, versprüht Desinfektionsmittel um ihr Bett und geht leicht verlegen, aber zugleich ein wenig ermutigt davon. Kleine Streiche wie dieser erfüllen ihn mit kindlicher Freude, und er vergisst, dass drei Arten von Krebs sich im Wettlauf durch ihre lebenswichtigen Organe fressen.
„Wie ist das denn nun in Wirklichkeit? Wie ist das, wenn jemand stirbt?“, fragt Noor. Alice Bhatti ist nach ihrer Schicht in ein weites, langes Kleid geschlüpft und hat sich, den Unterarm über die Augen gelegt, auf einer Rollbahre ausgestreckt. Auf einem halb heruntergerissenen Plakat an der Wand hinter ihr steht: „ Bhai , dein Blut wird die Revolution bringen.“ Und jemand hat mit Filzstift daruntergekritzelt: „Und die Revolution wird noch mehr Blut bringen.“ Ein anderer hat „Inschallah“ hinzugefügt, um die göttliche Hand ins Spiel zu bringen. Ein eher praktisch veranlagter Geist hat, um der Revolution eine Richtung zu geben, einen Pfeil daruntergemalt und geschrieben: „Bhai, die Blutbank ist im Block C.“
„Ich habe ein paar Mal im Kreißsaal ausgeholfen. Da bekommt man eine Ahnung. Ich glaube, der Tod hat große Ähnlichkeit mit einer Geburt.“ Alice Bhatti nimmt den Unterarm vom Gesicht, ohne jedoch die Augen zu öffnen. „Plötzlich geht es los, und du presst und presst, und danach fühlt sich der Körper so zerrissen und ausgelaugt, dass du nicht weißt, ob du nur erschöpft oder schon tot bist. Um dich herum sind eine Menge Leute, die um alles Mögliche beten: um die Rettung ihres eigenes Lebens, um eine leichte Geburt für dich und um ein kleines, schönes Haus im Paradies für sich. Dabei erwarten sie die ganze Zeit, dass du noch stärker presst. Ihr Muslas habt für alles ein Gebet. Es ist, als würden die Leute im Dunkeln herumtasten und hoffen, zumindest irgendetwas zu ergattern. Wie bei einem Wettlauf, bei dem du unbedingt das Ziel erreichen musst. Ob du gewinnst oder
Weitere Kostenlose Bücher