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Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt

Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt

Titel: Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mohammed Hanif
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andere Seite. Noors Rücken berührt nun ihren Rücken, und er spürt ihre geschmeidige Wirbelsäule. Sie liegt ganz still und wartet. Noor weiß, dass sie etwas gefragt werden möchte. Manchmal will sie ihm etwas sagen. Aber er soll sie fragen.
    „Du verschweigst mir etwas“, sagt Noor. So war es auch oft bei Zainab. Er musste raten und ihr die richtige Frage stellen. Frauen sprechen eine andere Sprache. Männer sagen allen alles. Eigentlich tun sie die meisten Dinge nur, damit sie jemandem davon erzählen können. Auch wenn keiner sie hören will. Aber Frauen möchten gefragt werden. Wie es sich gehört. Das hat er in der Besserungsanstalt gelernt.
    Alice wendet sich ihm leicht verblüfft zu. Als hätte er sie mit einem anderen Namen angesprochen.
    „Ich sehe jemandem ins Gesicht und dann weiß ich Bescheid“, sagt sie.
    „Ich auch.“ Noor versucht, sie aufzuheitern. „Ortho Sir wäre lieber Imam in Toronto, um alle Kanadier zu bekehren. Dr. Pereira würde gern ein Buch über sein Leben schreiben, andererseits ist es ihm peinlich, und er hofft, jemand anders wird es tun. Er glaubt tatsächlich, dass er mich zu diesem Zweck ausbildet. Schwester Hina Alvi findet, sie könnte das Land besser regieren als die Bhuttos. Und wer weiß, wahrscheinlich stimmt das sogar. Zumindest weiß sie, wann sie den Mund halten muss.“
    Alice Bhatti hat kein Interesse an Noors Begabung. Sie hat ihm etwas zu sagen.
    „Ich sehe es den Leuten am Gesicht an, wie sie sterben werden.“
    „Das ist keine große Kunst, wenn du ihre Krankenakte vor dir hast.“ Noor beschleicht die seltsame Ahnung, dass er lieber nicht wissen möchte, was immer sie ihm sagen will. Ein Mensch braucht nicht alles zu wissen. „Wenn ein Diabetiker einen Zuckerspiegel von über 6 und einen Blutdruck unter 120 hat, kann ich seinen Angehörigen auch sagen, dass er im Bad einen Herzschlag erleiden wird.“
    Alice Bhatti legt beide Hände auf den Rand der Bahre und beugt sich nach vorn. Noor sieht jetzt auch den Talkumpuder zwischen ihren Brüsten. Aber er denkt nicht an Frauen oder ihre Körperteile. Das reizt ihn nicht, und er spürt plötzlich keine Erregung mehr. Er fühlt sich wie ein Kind, das in ein Erwachsenengeheimnis eingeweiht werden soll und eigentlich nicht will.
    „Ich spreche nicht von den Patienten, sondern von normalen Leuten. Leuten auf der Straße. Ich weiß es einfach. Ich sehe sie an, dann sehe ich ihr totes Gesicht und weiß, wie sie sterben werden.“
    „Hast du das von deinem Vater? Er hat doch Leute durch Besprechen geheilt. Das, was du mir in der Anstalt mit der Kerze und dem Glas Wasser gezeigt hast.“
    „Ja, aber er hat nur den einen Trick bei Magengeschwüren … leider haben in French Colony nicht viele Leute Magengeschwüre. So was kriegen nur Reiche.“
    „Damit könntest du doch ein gutes Geschäft machen“, sagt Noor. „Sie schicken uns Ihr Foto, und wir sagen Ihnen Ihren Tod voraus. Du könntest jede Menge Geld verdienen. Eine eigene Kolumne in der Freitagszeitung bekommen. Und eine eigene Sendung bei Telefun.“
    „Bei Fotos funktioniert es nicht. Ich habe in meinem Leben Hunderte von Bildern von Yasu gesehen, aber ich weiß noch immer nicht, wie er gestorben ist.“
    Noor unternimmt einen letzten Versuch, um sich vor Alice Bhattis Todesahnungen zu retten. Er steht auf, geht um die Bahre, baut sich vor Alice auf und tut, als würde er mit dem Hammer einen Nagel in ein Kreuz schlagen. Ihr Schweiß rinnt nun in Strömen durch den Talkumpuder. Sie wirkt wie erschöpft vom Anblick so vieler toter Gesichter.
    „Auf Fotos kann ich nichts erkennen. Auch nicht bei Babys und kleinen Jungen, weil sie immer plötzlich sterben.“
    „Hast du mal in den Spiegel geschaut?“ Noor hat die ganze Zeit gewusst, dass das die Frage ist, die er stellen soll. Er hätte auch nach sich selbst fragen können, aber ihn hat sie ja bereits als „kleinen Jungen“ ausgemustert. Kleine Jungen sterben plötzlich, der Grund ist nicht wichtig, außerdem ändern Gründe sich oft noch im letzten Augenblick.
    Alice steht auf und drückt die verschränkten Arme gegen ihre Brust, wie um sich gegen die Grausamkeit der Welt zu wappnen.
    „Ja, habe ich, aber ich sehe nichts.“
    Noor ist erleichtert. Er kann sich Alice nicht als Tote vorstellen. Mit ihren roten Wangen und der glänzenden Narbe auf dem Kinn sieht sie aus wie die strikte Verneinung des Todes. „Ärzte können sich auch nicht selbst heilen. Dein Yasu hat sich bestimmt nicht selbst

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