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Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt

Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt

Titel: Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mohammed Hanif
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auferweckt. Und Moses hat auch das Manna nicht selbst gebacken.“ Beim Versuch, das Thema zu wechseln, hätte er die Menschheitsgeschichte anhand der unbeabsichtigten Folgen neu erzählen können, aber ihr blasses Gesicht bringt ihn zum Verstummen.
    Ihre Stimme klingt nun anders. Furchtsam.
    „Es ist kein Wunder. Es ist ein Albtraum. Ich sehe tatsächlich etwas, wenn ich in den Spiegel schaue, aber ich kann nicht erkennen, was es ist. Ich bin es nicht, es ist nicht einmal ein menschliches Gesicht. Es ist ein Ghul . Er macht mir Angst.“
    „Hab keine Angst. Jeder erschrickt ab und zu, wenn er in den Spiegel schaut“, sagt Noor. „Wahrscheinlich solltest du heiraten. Ich habe gehört, ein guter Ehemann sei das beste Heilmittel gegen Albträume. Und weißt du auch warum? Weil du dann mit deinem Albtraum schläfst.“

sechs
    An dem Tag, als Joseph Bhatti zur Anhörung seiner Tochter bei Gericht erscheinen soll, macht er sich auf die Suche nach einem Anwalt. Er hat kein Geld, aber er hat sich umgehört und trägt den Beutel mit den Instrumenten seiner Kunst bei sich. Vor der Kanzlei bleibt er stehen und liest das selbstgemalte Pappschild. Offensichtlich kann sich dieser Anwalt weder einen Gehilfen noch einen professionellen Schildermaler leisten. Auf der Pappe an der Tür steht: „S.M. Qadri, MA, Bachelor of Laws, Zivilrecht, Strafrecht, Eigentumsrecht, Ehescheidungen, Beglaubigungen zu ermäßigten Preisen.“
    Mr. MA, Bachelor of Laws, sitzt in die Betrachtung eines Glases Milch versunken auf seinem Stuhl.
    „Magengeschwüre?“, fragt Jospeh Bhatti, ohne ihn zu begrüßen. „Sie haben schon alles versucht?“
    Der Anwalt schüttelt traurig den Kopf. „Ich habe wirklich alles versucht. Schulmedizin, Homöopathie, Hakims , sogar schwarze Magie: das Blut einer weißen Taube mit der Asche vom Schwanz einer jungen Eidechse vermischt. Ekelhaft. Und wahrscheinlich sogar illegal.“
    Joseph Bhatti hört geduldig zu, zieht sich einen Stuhlheran und nimmt Platz. „Milch. Ja, die hilft. Zumindestzeitweise. Aber nicht jeder mag Milch.“
    Der Anwalt greift nach dem Glas, als würde er es Joseph Bhatti am liebsten ins Gesicht schütten, und schiebt es dann sacht beiseite. „Das Einzige, was hilft. Aber nur für zwei Stunden. Außerdem schmeckt sie wie Rizinusöl. Haben Sie schon mal Rizinusöl probiert? Den ganzen Tag habe ich diesen Rizinusgeschmack im Mund. Ich weiß nicht, für welche Sünden ich bestraft werde, dass ich mein halbes Leben das Gefühl habe, mich gleich übergeben zu müssen.“
    Joseph Bhatti fällt ein Wandkalender hinter dem Anwalt ins Auge. Er zeigt die Silhouette eines Kamels vor der glühenden Wüstensonne und eine arabische Kalligraphie. Joseph Bhatti hat gehört, dass in dem Musla-Buch kein einziges Kamel vorkommt, dieses Tier ihnen aber einfach nicht aus dem Kopf geht. Was hat der Musla-Gott mit Kamelen zu tun? Warum sind sie so besessen von diesen hässlichen Viechern? Warum verehren sie keine Pferde? Warum nicht wenigstens geflügelte Pferde? Oder Züge, zum Teufel? Warum all diese Huf- und Höcker-Pornographie? Ob sie wirklich glauben, ihr Schöpfer lebe in einer Wüste und reite auf diesem hässlichen, bösartigen Tier? Es gab einmal eine Zeit in Joseph Bhattis Leben, in der er sich an die Straßenecke gestellt und gegen Kamele gewettert hatte. Aber heutzutage kann man nie wissen. Besonders bei Leuten, die Kalender mit geschmackvollen Kamelmotiven bevorzugen.
    Joseph Bhatti holt seinen Glaskrug, die Kerze und eine Streichholzschachtel aus dem Beutel und reiht sie auf dem Tisch auf, als wollte er dem Anwalt eine paar Zauberkunststücke vorführen.
    Skeptisch mustert der Anwalt Bhattis Utensilien. „Wird es wehtun?“, fragt er dann.
    „Nicht, wenn Sie meine Tochter Alice Bhatti auf Bewährung rauskriegen. Ihr Prozess findet heute Nachmittag statt, Verhandlungsgebäude 4. Sie ist irrtümlich eines Überfalls mit schwerer Körperverletzung angeklagt. Halten Sie bitte möglichst still, es könnte etwas kitzeln.“
    Der Schreibtisch wird abgeräumt, der Anwalt zieht sein Hemd aus und legt sich darauf. Joseph entzündet die Kerze, platziert sie im Nabel des Mannes und starrt darauf, während er langsam bis zehn zählt. Dann stülpt er den Glaskrug über die Kerze, und als die Flamme verlischt und der Krug sich mit milchweißen Rauchschwaden füllt, rezitiert er die Sure Al-Asr: „Beim Nachmittag! Die Menschen sind wahrlich im Verlust …“
    Der Anwalt starrt Joseph Bhatti voller Panik an,

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