Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt
als hätte man ihn trickreich in die Fänge einer gefährlichen Sekte gelockt. Er ist ein Anwalt der Straße und hat in seiner Laufbahn mit allen möglichen Verrückten zu tun gehabt, aber ein christlicher Chura, der den Koran mit dem Eifer eines frisch eingesetzten Mullahs rezitiert, ist auch für ihn etwas Neues. Er ist nicht einmal sicher, ob so etwas legal ist.
Auf dem freien Markt schafft es nicht immer der Beste an die Spitze, aber wenn es jemandem gelingt, wird es bekannt. Man muss in diesem Teil der Stadt nur jemanden, der sich über einen verstopften Abfluss beugt, fragen, wer der Beste sei. Er wird weder eine Firma noch seinen Onkel noch den Chef der städtischen Straßenreinigung nennen, sondern Joseph Bhatti aus French Colony. Denn selbst dort werden nicht viele Menschen mit dem Instinkt geboren, nur an einem Abfluss riechen zu müssen, um zu wissen, was ihn verstopft. Mittlerweile ist Joseph Bhatti im Ruhestand, aber man ruft ihn noch immer, wenn etwas einen Abflusskanal im Innersten verstopft. Noch immer geht er bei Wolkenbrüchen hinaus und hilft unentgeltlich, denn in diesem Teil der Welt sind Regenfälle selten und bringen sehr besondere Herausforderungen mit sich. Plötzlich macht man den Menschen das Leben nicht nur leichter, sondern rettet es ihnen sogar. Die Regenfälle hier hätten selbst Noah in Entzücken versetzt.
Wie es in jedem anderen Beruf auch vorkommt, ist Joseph Bhatti durch seine leidenschaftliche Hingabe und seine natürliche Begabung an die Spitze gelangt, alles Eigenschaften, die in seiner Branche höchst selten anzutreffen sind. Gott brauche besondere Propheten, erklärt Bhatti seinen Kollegen, die sich um den Abfall kümmern. Ohne sie wäre die Menschheit schon darin erstickt. Aber es ist nicht sein Händchen für verstopfte Abflüsse, das die Aufmerksamkeit der Kirche auf ihn lenkt. Hochwürden Philip verdächtigt ihn sogar, insgeheim ein Musla zu sein. Welcher Katholik rennt schon durch die Gegend und heilt Magenkrankheiten, indem er Verse aus dem Koran zitiert und Kerzen anzündet?
Der Stadtteil French Colony ist seit jeher dafür bekannt, nicht nur ausgezeichnete Sanitärfachleute, sondern auch alle paar Jahre einen wahnsinnigen Heiligen hervorzubringen. Jemand kann an einem Tag in der Gosse wühlen und stinken wie der Überrest einer Seuche und am nächsten ein Heiler und Prophet sein, dem die Leute Jasmin-Girlanden an die Tür nageln. Sie stehen Schlange vor deiner Hütte und wollen, dass du ihre Masern heilst, ihre Ersparnisse verdoppelst und die Cricket-Ergebnisse vorhersagst. Schon bald reicht dein Ruf über die Grenzen von French Colony hinaus und lockt auch Ungläubige mit finanziellen Schwierigkeiten oder Liebeskummer an. Auch Limousinen sind hin und wieder dabei. Dann dauert es nicht lange, bis Hochwürden Philip in seiner Predigt gegen die Hexer zu sticheln beginnt, die die Menschen vom rechten Wege des Herrn Yasu fortführen.
Joseph Bhatti hat nie etwas behauptet. Im Volk ist der Mann mit dem vollen, glänzenden grauen Haar und demrabenschwarzen Schnurrbart nur für eines bekannt: seine neunundneunzigprozentige Erfolgsrate bei der Heilung von Magengeschwüren durch die Besprechung mit irgendwelchen Musla-Gebeten. Nicht mehr und nicht weniger. Er kann weder ein italienisches Visum besorgen noch einen entlaufenen Liebhaber zurückbringen oder einen knausrigen Chef zu Gehaltserhöhungen veranlassen. Prüfungen, Ratschläge für verfeindete Schwägerinnen oder um die gleiche Hure buhlende junge Männer gehören ebenfalls nicht zu seinem Repertoire. Da ist er ein hoffnungsloser Fall. Sobald jemand mit einem Leiden an ihn herantritt, das kein Magengeschwür ist, schüttelt er den Kopf, blickt gen Himmel und fragt: „Wann hat es in dieser Stadt zum letzten Mal geregnet?“ Und wenn man ihn erinnert, wann es war, sagt er: „Ich hatte nichts damit zu tun. Ich habe dem Regen nicht befohlen zu fallen. Ich bin kein Zauberer, ich bin ein Chura. Ich rezitiere nur Seine Worte, aber ich kann Ihn nicht beim Wort nehmen. Um ehrlich zu sein, verstehe ich sie nicht einmal. Ich zünde bloß eine Kerze an, bedecke sie mit einer Glaskanne und spreche Seine Worte. Er ist es, der heilt.“
Als Joseph Bhatti seine Tochter Alice vor Gericht sieht, entdeckt er an ihr etwas von sich selbst. Alice trägt ihre Handschellen mit einer Anmut, als wären es gläserne Armreifen. Die Polizistinnen behandelt sie wie ihre persönlichen Leibwächterinnen. Den Richter mustert sie mit einem Blick,
Weitere Kostenlose Bücher