Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt
kennengelernt, die ihren Männern den Garaus gemacht hatten und mit Stolz auf ihre Tat blickten, aber dennoch die trauernde Witwe spielten. Alice war damals noch jung und kaum in Berührung mit den Medien gekommen, die mit dem gleichen Genuss über diesen Sport berichteten wie bei allen Sportarten, und dennoch kam es ihr vor, als würde es in der ganzen Stadt nur so von Serienmördern wimmeln. In jeder Küche gab es einen. Allerdings hatte das Haus bisweilen gar keine Küche. Oft gab es nicht einmal ein Haus, eine Mauer oder ein Dach. Auch Nomaden, die in provisorischen Zelten wohnten, konnten sich mit dem Ehrenvirus infizieren und beglichen die Schulden aus einem Kartenspiel, das zu lange indie Nacht hinein gedauert hatte, mit einer Frau. Alice erfuhr auch, dass so etwas niemanden verwunderte. Weder gab es Polizeikommissare, die Hinweise sammelten, noch Regierungsunterausschüsse, die darüber berieten, wie diese gefährdete Spezies am Leben zu erhalten sei. Ihre Misshandlung galt als ebenso unausweichlich wie der Umstand, dass es im Mai nicht regnet. Schließlich wurden auch immerwieder Leute überfahren, egal, wie viele Schilder man aufstellte, um die Verkehrsgeschwindigkeit zu begrenzen.
Es versteht sich von selbst, dass Alice Bhatti über diese Dinge nachdenkt. Sie sieht sich die geschundenen Körper auf dem Boden der Notaufnahme an und versucht, die Regeln dieses Spiels zu begreifen. Wie jeder logisch denkende Mensch glaubt sie, dass es einen Grund geben muss, dass ausgerechnet diese Frauen und nicht die anderen sechsundfünfzig Millionen im Land getötet wurden. Ihre Namen stehen möglicherweise auch auf der Liste, aber irgendwie gelingt es ihnen zu entkommen. Einige klagen, ihr Schicksal sei schlimmer als der Tod, Alice Bhatti hat jedoch in der Notaufnahme zu viele Neuzugänge gesehen und weiß, dass das Schicksal, von der Hand des eigenen Vaters, Liebhabers oder Bruders erschlagen zu werden, weitaus schlimmer ist. Schlimmer auch, als versehentlich von einem Lastwagen überfahren zu werden, selbst wenn der eigene Sprössling am Steuer sitzt.
Alice Bhatti hat ihre eigenen Beobachtungen angestellt und glaubt erkannt zu haben, welcher Typ Frau es ist, der die falsche Art von Aufmerksamkeit auf sich zieht. Diese Frauen stolpern von einem Mann, der sie schlägt, zum nächsten, der ihnen die Nase abhackt, dann in die Arme des unvermeidlich letzten, der ihnen die Kehle durchschneiden wird.
Und dieser Typ Frau will sie nicht sein.
Sie weiß, dass diese Frauen oft schön sind. Es ist keinegewöhnliche Schönheit, die sie besitzen, sondern eine besondere Schönheit, die Beachtung erregt. Sie können einen Hijab tragen oder sich in weite, männerabweisende Lumpen hüllen und werden dennoch Aufmerksamkeit erregen. Sie besitzen eine Schönheit, die schreit: „Schau, hier bin ich, ich sitze, jetzt stehe ich, das sind meine Beine, schau, wie ich gehe, das ist mein Hals, fühlst du, wie die eiskalte Pepsi durch meine Kehle rinnt? Und sieh meine Nase, findest du, ein Nasenschmuck würde mir stehen?“ Wenn diese Frauen den Mund öffnen und etwas sagen, klingt es alltäglich, doch ihre Augen blicken dabei mit majestätischer Verachtung auf die Person, mit der sie sprechen: „Bist du nicht unglücklich, dass du nicht ich bist? Und bist du nicht unglücklich, dass du mich nicht haben kannst? Ist dein Leben überhaupt lebenswert? Ich gehe jetzt, ich muss woandershin, ich habe viel zu erledigen, persönliche, vertrauliche Dinge mit anderen Menschen, nicht mit dir. Du kannst hierbleiben und dein armseliges Leben führen. Und mir nachschauen, wenn ich auf diesen Beinen von dir fortgehe.“
Natürlich muss eine Frau keine atemberaubende Schönheit sein oder einen verächtlichen Blick haben, um auf dem Boden der Notaufnahme zu landen. Alice Bhatti hat Frauen gesehen, die so alt, ausgemergelt und vom Leben gebeutelt waren, dass es wie Zeitverschwendung schien, sie niederzustechen. Dennoch geschieht es.
Alice Bhatti will kein Risiko eingehen. Ihr wird so etwas nicht passieren.
Also strebt sie ein möglichst unauffälliges Äußeres an und hat gelernt, zur Seite zu blicken, statt andere Menschen direkt anzuschauen. Sie drückt sich dienstlich und präzise aus, damit sie nicht missverstanden wird. Sie wählt jedes ihrer Worte mit Bedacht, und wenn jemand sie auf Panjabi anspricht, antwortet sie auf Urdu, weil schon ein Austausch in ihrer Muttersprache womöglich als eine Verheißung von Intimität verstanden werden könnte.
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