Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt
bessere Wohnung anstrebt, hat auch der Kirche mehr zu geben. Für Dulhousie ist das Anfertigen von guter Kleidung nicht nur ein Mittel, auf ehrliche Weise seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, sondern auch die Lämmer seines Herrn optimistisch zu stimmen. Eine gut gekleidete Gemeinde ist letztlich auch eine glücklichere Gemeinde. Wenn also jemand wie Alice Bhatti sein Geschäft betritt, hält er sich nicht die Nase zu. Er reicht sie nicht an einen von seinem halben Dutzend vor ihren Singer-Nähmaschinen kauernden Lehrlingen weiter, sondern rückt seine Brille zurecht und begrüßt sie mit einem Lächeln, so strahlend, dass es noch die hintersten Winkel von French Colony zu erhellen vermag.
Wie gewohnt spricht Mr. Dulhousie ein kleines Gebet, bevor er mit dem Maßnehmen beginnt. Es ist das erste Mal, dass Alice vermessen wird, und jeder Teil, den Mr. Dulhousie mit seinem verblichenen Maßband abnimmt, wird dadurch wirklicher, menschlicher, heiratsfähiger.
Alices Körper gehört zu jenen Wundern der Unterernährung, die bisweilen einen leichten, zerbrechlichen Knochenbau mit überproportional großen Brüsten hervorbringt. Mr. Dulhousie weiß, dass die junge Frau aus einem Haushalt stammt, wo Hungern als Fasten ausgegeben wird, wo es in der letzten Woche des Monats immer in Wasser eingeweichtes Brot gibt, wo Milch ohne Zucker und Tee ohne Milch getrunken und Fleisch nur dann gegessen wird, wenn jemand heiratet oder stirbt, wo Reis und Dhal ein Sonntagsessen und jeder vierte Sonntag im Monat gezwungenermaßen ein Fastentag ist. In diesen Familien knurren selbst die leeren Mägen das Lob des Herrn.
Dank dieser Diät hat Alice eine Figur, für die so manches Mädchen in ihrem Alter töten würde oder sich sogar tatsächlich selbst tötet, wenn es versucht, sie zu erlangen. Man kann durch ihre Kleidung ihre Rippen zählen, ihre Schlüsselbeine stechen hervor wie scharfe Bumerangs, ihre Knöchel sehen aus wie Muster aus einem Anatomielabor, doch ihre Brüste haben den Mangel an ordentlicher Nahrungirgendwie überlebt, scheinen dadurch sogar zu besonderer Reife gelangt zu sein, wie persische Buttermelonen, die nur in der Wüste wachsen und eingehen, wenn es mehr als einmal pro Jahreszeit regnet. Nachdem Alice als Vierzehnjährige bei einer Osteraufführung in der Schule mitgewirkthatte, fotografierte man sie anschließend vor einem großen Kreuz. Daraufhin witzelte eine alte Nonne, sie sähe aus wie ein Kreuz mit Brüsten. Seither meidet Alice die Nähe von großen Kreuzen.
Mr. Dulhousie legt das Band um ihren Brustkorb, während er streng darauf achtet, ihren Körper nur mit den Fingerspitzen zu berühren. „Bei Gott“, flüstert er, „wie viele reiche christliche Damen hungern sich halb zu Tode, um eine solche Figur zu bekommen. Ich erinnere mich noch an Ihre selige Mutter, ich habe damals ihr Hochzeitskleid genäht. Sie haben genau ihre Größe. Ich könnte in meinen Büchern nachschauen und das gleiche Kleid noch einmal nähen.“ Lächelnd nimmt er seine Brille ab, um sich eine nicht-existente Träne aus dem Auge zu wischen. „Wie tragisch, dass Er sie schon in ihrer Jugend zu sich genommen hat. Aber wenn der Herr eine Tür schließt, stößt Er stets eine andere auf. Zumindest konnten Sie mit der Abfindung Ihre Ausbildung finanzieren. Ich habe gehört, Sie haben sogar im Wohnheim gelebt. So etwas müssten unsere jungen Leute viel öfter tun. In die Welt hinausgehen, mit anderen zusammenkommen, lernen, mit den Menschen außerhalb der Colony zu leben.“
Alice Bhatti weiß nicht genau, wie sie auf die Spekulationen dieses Schneiders über ihre Familiengeschichte reagieren soll. „Ja, Er hat sie zu sich genommen“, murmelt sie.
Dulhousie misst eifrig weiter, während er sich in weiteren Komplimenten ergeht. Alice versteht nur etwas in der Art, welch ein Privileg es sei, von der Natur mit einer solchen Figur gesegnet zu sein.
Alice ist sich dieses sogenannten Vorzugs schmerzlich bewusst und hat ihn immer als Fluch empfunden. Wird sie deshalb doch ständig angegafft, sodass sie immer an ihrer Tunika zupft, um die Aufmerksamkeit von diesem Vorzug abzulenken. Was hofft sie, damit zu erreichen? Glaubt sie wirklich, dass die Männer sich dann, statt auf ihre Brüste zu starren, auf ihren Saum konzentrieren? Oder die stieren Blicke sich dann auf ihre nervös an ihrer Tunika herumnestelnden Finger richten?
Für den Weg zur Arbeit wählt sie stets eine besonders weite Tunika, drapiert zusätzlich einen Dupatta
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