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Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt

Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt

Titel: Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mohammed Hanif
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darüber und vergewissert sich, dass auch ihr Nacken bedeckt ist. Sie trägt ihre Haare zusammengebunden und bricht erst zum Herz Jesu auf, wenn sie sich noch einmal überzeugt hat, dass der Shalvar ihre Knöchel ganz bedeckt.
    Alice hätte es wahrscheinlich lernen können, die Blicke zu ignorieren, sich gegen die hungrigen Augen zu wappnen und die Gaffer zu meiden. Sie hätte akzeptieren können, dass Männer ihre Augen vorzugsweise dazu gebrauchen, die weibliche Anatomie abzuschätzen, doch als sie ins Berufsleben eintrat, musste sie erkennen, dass es einigen nicht genügt, sie nur anzusehen. Plötzlich wollten alle sie anfassen, wie um zu überprüfen, ob sie real ist. Alice ist sich bewusst, dass außerhalb von French Colony andere Regeln gelten. Manche Leute wollen nicht aus einem Glas trinken, das sie benutzt hat, andere nehmen keine Banane von der gleichen Staude, von der sie gekauft hat. Das ist deren Problem. Sie kann damit leben, unberührbar zu sein, aber sie hat verzweifelt auf den einen Vorteil gehofft, den dies doch mit sich bringen müsste: dass man sie ohne ihre ausdrückliche Erlaubnis nicht berührt. Aber die gleichen Menschen, die sich weigern, denselben Wasserhahn wie sie zu benutzen, stört es nicht im Geringsten, ihr ganz nebenbei den Ellbogen in die Brust zu rammen oder die seltsamsten Verrenkungen zu machen, um sich an ihrem gottlosen Hinterteil zu reiben.
    Viele machen sich dabei ihre berufliche Stellung als Krankenschwester zunutze. Am Anfang ihrer Laufbahn ging Alice sehr großzügig mit ihren Händen um, sie fühlte Puls, tastete Körper nach unsichtbaren Tumoren ab, spürte schwer bestimmbaren Schmerzquellen nach. Auf einer Exkursion in den Bezirk Sarghoda wurde sie immer wieder von älteren Männern angehalten, die verlangten, von ihr den Puls gefühlt zu bekommen. Bereitwillig und mit routiniertem Griff überprüfte sie so manchen kräftigen bäuerlichen Herzschlag und konnte bestätigen, dass der Untersuchte sich bester Gesundheit erfreute. Sie erbot sich sogar, den Alten in den Hals zu schauen und sie abzuklopfen. Eines Tages stand sie an einem malerischen Dorfbrunnen. Ein Gespann schwarzglänzender Ochsen drehte müde, jedoch unerschütterlich seine Runden um den Brunnen und ein paar Kinder scheuchten Hühner und Ziegen. Sie umfasste das Handgelenk eines stattlichen Großvaters und schloss die Augen, um sich besser konzentrieren zu können. Als sie sie wieder aufschlug, um ihm die erfreuliche Mitteilung zu machen, dass sein Herz robust und gesund sei, sah sie, dass Großpapa mit der anderen Hand seinen Dhoti zurückgeschlagen hatte und an einem langen, dünnen, schlaffen Penis zog. Als sie sich nach einem Tritt gegen sein Schienbein zum Gehen wandte, hörte sie, wie er murmelte: „Dich hacke ich in Stücke. Und die schmeiße ich dann in den Brunnen.“
    Inzwischen ist sie erwachsen genug, um zu wissen, dass das Zerstückeln von Frauen ein älterer Sport ist als Cricket, aber nicht minder beliebt und ebenso vielen dunklen Ritualen und verworrenen Regeln unterworfen, die alle zu kennen scheinen, nur sie nicht.
    Alice Bhatti hat kein Interesse daran, sie zu verstehen, aber sie will auch keines von den Mädchen sein, die falsche Aufmerksamkeit auf sich lenken und an falschen Orten landen. Sie will kein Mädchen sein, das in Bussen begrapscht wird, das man in der Kantinenküche bedrängt, das keine Straße entlanggehen kann, ohne dass Leute finden, es sollte mit verbundenen Augen in einem Kofferraum liegen. Sie will nicht zu jenen Frauen gehören, die geradezu danach verlangen, in Stücke gehackt und in einem Hinterhof verscharrt zu werden.
    In den sechs Monaten, die sie während ihres Assistenz-Jobs in der Notaufnahme gearbeitet hatte, war kein Tag – nicht ein einziger – vergangen, an dem Alice nicht eine Frau gesehen hatte, die erschossen, erschlagen, stranguliert oder erstickt, vergiftet oder verbrannt, gehängt oder lebendig begraben worden war. Die Mörder waren eifersüchtige Ehemänner, Brüder, Väter, Söhne, verschmähte Liebhaber, die ihre Ehre verteidigten, Bauern, die einander im Streit um Wasserrechte befehdeten, oder Geldverleiher, die ihre Zinsen eintreiben wollten. Offenbar wurden die meisten Streitigkeiten geschlichtet, indem man Frauenkörpern alles nur Mögliche antat. Eine Frau war an jeder Straßenecke als Wechselgeld zu haben. Selten, sehr selten gelang es einer Frau, in einem solchen Kampf die Oberhand zu behalten. In der Besserungsanstalt hatte Alice einige

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