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Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt

Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt

Titel: Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mohammed Hanif
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müssen sie über mindestens drei Personen steigen, die, sichtlich bewegt von ihren Träumen, auf dem Boden schlafen.
    „Es ist noch zu früh. Ich bin in einer Bewerbungskommission. Ich habe kurz Pause und wollte nur mal nach Zainab sehen. Ich muss jede Menge protokollieren“, murmelt Noor und hofft, nicht um etwas Zeitaufwändiges gebeten zu werden. Oder etwas Scheußliches.
    „Euer Rechtsmediziner ist an allem schuld. Der Kommissar hat diesen Abu Zar hinten im Wagen. Sehr gefährlich. Aber er streitet alles ab. Du kennst diese Leute nicht, wir brauchen mindestens ein paar Tage, um ihn zum Reden zu bringen. Aber dein Dr. Malick will uns nicht bescheinigen, dass der Mann einen von uns verletzt hat. Stell dir vor, er will Beweise. Wenn er blau ist, wird er zum Prinzipienreiter.“
    Noor bleibt stehen, um eine Bahre aus dem Weg zu rollen, aber Teddy redet unentwegt weiter. Als würden Zusammenhänge, Schuldzuweisungen oder die Fehler im System den kommenden Schmerz irgendwie lindern oder zumindest rechtfertigen, sodass er sich lohnt.
    „Wo sind denn seine Prinzipien, wenn er Blanko-Totenscheine ausstellt? Kommissar Malangi bittet ihn um einen Fetzen Papier, und plötzlich fallen ihm seine Prinzipien ein. Sollen wir einen Attentäter laufen lassen, weil er uns noch nicht umgelegt hat? Wir könnten Dr. Malick wegen dieser Flasche Murree’s in seinem Büro drankriegen. Weißt du, was so eine Flasche kostet? Woher hat er das Geld dafür? Was verkauft er? Eine Niere für eine Literflasche? Wir haben Totenscheine, auf denen er ‚Nierenversagen‘ als Todesursache angegeben hat, obwohl eine Niere völlig zerschossen oder gar nicht mehr vorhanden war. Wegen ihm brauche ich jetzt sofort einen Daumen. Weil wir wegen dem Mist, den er baut, eure Tante Hina Alvi an der Backe haben, und die hat mehr Prinzipien als ein Mann Haare. Sie könnten wir auch drankriegen, aber zuerst brauche ich den kaputten Daumen.“ Teddy stößt ein hohles Gelächter aus. Noor wirkt noch immer lustlos.
    An einem Strommast bleiben sie stehen. Beide wissen, was zu tun ist. Noor hat es eilig. Er will noch einmal zu Zainab, um ihr ihre Medikamente zu geben, bevor er zum Bewerbungsgespräch zurückmuss. Teddy hat die Erwartungen seiner Familie zu erfüllen. Beide schauen gleichzeitig den Mast hinauf, wo mehrere Milane auf den Leitungen sitzen und argwöhnisch auf sie hinunterblicken. Teddy und Noor sehen sich noch einmal um, ob jemand sie beobachtet. Beide stellen betroffen fest, dass niemand sie beachtet.
    „Wird es sehr wehtun?“, fragt Teddy, als käme ihm zum ersten Mal der Gedanke, dass das Bevorstehende ihm physisches Unbehagen bereiten könnte. Noor seufzt. Warum die Leute nur immer dieselbe Frage stellen? Er lebt in einer Welt, in der die Menschen ihre Schmerzen in wohlbemessenen Dosen abgepackt haben wollen. Auf dem Etikett sollen in leicht verständlicher Sprache Inhaltsstoffe und Verfallsdatum vermerkt sein, und natürlich die Garantie, dass nichts mehr nachkommt.
    Viele weinen schon, bevor der Schmerz überhaupt eintritt. „Tut das weh?“, fragen sie, und „Wie weh? So weh?“, während sie auf einer imaginären Schmerzskala zwischen Daumen und Zeigefinger versuchen, einen Gradmesser für den sie erwartenden Schmerz zu finden. Je nachdem wird der Abstand erweitert, gefolgt von der Frage, ob es nun so weh oder doch so weh tun werde. Und wie ein Profi lügt Noor jedes Mal, denn er weiß, dass der Schmerz, den man erwartet, immer stärker ist als der eigentliche Schmerz. Er zuckt die Achseln, klopft dem Patienten auf die Schulter und sagt: „Keine Sorge, Sie werden überhaupt nichts merken.“
    „Du wirst überhaupt nichts merken“, sagt Noor und klopft an den Strommast. „Im ersten Moment. Dann brennen dir die Sicherungen durch. Das Licht geht aus. Und du spürst einen Schmerz wie nie zuvor.“
    „Du sollst mir keine Angst machen, du sollst deinen Job erledigen“, sagt Teddy und umfasst den Mast mit der rechten Hand. Dann überlegt er es sich anders und legt die linke um den Mast, sodass der Daumen in Noors Richtung zeigt, der das Gewehr am Lauf hält und es wie einen Cricketschläger schwingt.
    Der Mast ist mit Zetteln, Aufklebern und Graffiti übersät. „Verein zum Schutz der Ehre der Mütter der Gläubigen“, steht auf einem Plakat mit einer gesichtslosen Frau im Chador . „Freiheit oder Tod“, fordert ein kleiner Aufkleber unter einer roten Hacke und der Karte des geplanten Staates, in dem für immer Freiheit oder Tod

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