Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt
Entscheidung, ob Alice Bhatti die Stelle bekommt oder nicht. Gut, dass er nicht gefragt wird, ob er Alice kennt, und wenn ja, wo sie sich das erste Mal begegnet sind. Obwohl Noor erst siebzehn Jahre alt ist, weiß er, dass der Ausdruck „Besserungsanstalt für Frauen und Kinder“ in einem Lebenslauf die Chancen für eine Einstellung nicht gerade verbessert.
Noor dient denjenigen Mitarbeitern als Protokollant, Stenograf und Sekretär, für die im Etat kein Sekretär vorgesehen ist. Am Tag ist er also Schreiber, in der Nacht Zainabs Sohn und rund um die Uhr Dr. Pereiras Liebling. Immerhin hat der Doktor ihn und seine Mutter vor den Toren des Herz Jesu aufgelesen und damit Hunderte wartender Patienten unter dem „Old Doctor“ übergangen. So wird der zweihundertjährige Pipalbaum genannt, der bereits lange vor dem Bau des Krankenhauses heilende Kräfte gezeigthaben soll, inzwischen jedoch nur noch für Schatten und Feuerholz sorgt. Es war Dr. Pereira, der Mutter und Sohn ein Bett und ein Auskommen gegeben hat. Ihm ist es zu verdanken, dass Zainab ihre letzten Tage in Frieden verbringen kann und Noor die für ein geglücktes Leben nötigen Fähigkeiten erwerben durfte. Noor seinerseits ist Dr. Pereiras Freifahrtschein zur Erlösung. Beim Anblick des über die Akten gebeugt schreibenden Jungen schwillt Dr. Pereiras Herz vor Stolz, er spürt die Hand seines Herrn Yasu auf seiner Schulter, während Seine Stimme ihm süße Worte auf Latein ins Ohr flüstert.
Auch wenn Dr. Pereira mit Noors Ausbildung ganz von vorne anfing, war dieser bei seinem Eintreffen im Herz Jesu kein echter Analphabet mehr.
Er hatte in der Besserungsanstalt lesen gelernt, nachdem er sich ein ganzes Jahr lang geweigert hatte. Auf gewisse Dinge legte man dort großen Wert. Zu diesen gehörte, dass die Insassen lernten, einige leichte Passagen aus dem Koran zu lesen und sich die Hände zu waschen. Weiterhin gehörte dazu, sich bei jeder nur möglichen Gelegenheit vögeln zu lassen, aber irgendwann fand Noor heraus, dass die im Gegenzug dafür versprochenen Vergünstigungen höchst ungewiss waren. Vielleicht bekamst du ein Vanilleeis oder durftest mit zum Freitagsgebet in eine große Moschee, aber eine Garantie gab es nicht. Stattdessen konnten sie dich auch jederzeit verprügeln und als notorischen Homosexuellen hinstellen. Schließlich konnten die Insassen nicht zum Gefängnisdirektor gehen und sich wegen nicht eingehaltener Versprechen beschweren. Ließ man einen an sich heran und andere nicht, fühlten die sich beleidigt und diskriminiert. Draußen fanden die Leute sich vielleicht mit Beleidigungen ab, aber in der Besserungsanstalt zeigten sie, wie gekränkt sie waren, indem sie nachts brennende Zigaretten auf die Matratze ihres Beleidigers legten oder gleich die ganze Matratze entwendeten, wenn man gerade im Waschraum war. Für Außenstehende klingt das vielleicht nach einer Lappalie, und manche würden sagen, dass gar keine Matratze besser ist als eine brennende, aber es gab keinen Ersatz, sodass der Betroffene für den Rest seiner Zeit auf dem bloßen Beton schlafen musste. Es gibt nichts Furchteinflößenderes als sechzehnjährige Anstaltsinsassen, die sich diskriminiert fühlen. Noor hatte von Anfang an klargestellt, dass er nicht der Typ war, sowieso kein Vanilleeis mochte und auch kein besonderes Interesse verspürte, freitags eine Moschee aufzusuchen. Im ersten Jahr hatte der Achtjährige sich strikt geweigert, auch nur einen Buchstaben des Alphabets zu lernen, weil er überzeugt war, dass zwischen dem ABC und den Händen, die sich in seine Unterwäsche schoben, ein direkter Zusammenhang bestand.
Doch im Herz Jesu lernte Noor richtig schreiben. Es fing damit an, dass er die Einweisungsformulare ausfüllte: Name, Geburtsdatum, Aufnahmedatum. Viele Patienten waren ratlos, wenn er sie bat, ihren Namen zu buchstabieren. So etwas konnten sie nicht. Niemand hatte dies je von ihnen verlangt. Die meisten wussten nicht einmal, dass ihr Name aus Buchstaben bestand und sie diese eigentlich kennen sollten. Also fragte Noor nach Ausweisen oder anderen Papieren, auf denen der Name möglicherweise stand.
Noor will die Namen richtig schreiben. Er will in jeder Hinsicht alles richtig machen. Und Alice Bhattis Bewerbungsgespräch ist sein erstes großes Protokoll. Nervös fragt er sich, ob Alice die Stelle wohl bekommen wird. Er ist ganz entschieden auf ihrer Seite, denn ihr hat er es zu verdanken, dass er von der Besserungsanstalt ins Herz Jesu
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