Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt
sicher, ob sie den Kampf ihres Herrn Yasu führte oder nur tat, was sie tun musste, um die brutalen Grabenkämpfe an der Schwesternschule zu überleben.
Das Mal auf Alice Bhattis Schulter ist kein Knutschfleck, es ist ein Biss. Die halbmondförmige Narbe auf ihrer Wange, die noch immer glüht, wenn sie wütend wird, stammt nicht von einem Haushaltsunfall. Sie stammt vom Kuss einer verirrten Kugel. Die Tafel-Mädchen hatten offenbar Tafel-Brüder an anderen Schulen. Diese Brüder hatten Waffen. Die Kugel sollte sie in den Hals oder vielleicht in den Kopf treffen, sie weiß es nicht. Noch heute schmeckt sie, wenn sie Tee trinkt, das heiße Metall im Mund. Von einer Labortür, die man ihr zufällig ins Gesicht gerammt hat, ist eine Vertiefung an der rechten Augenbraue geblieben.
Das Wundmal von einer brennenden Zigarette an der Seite ihrer linken Brust ist der einzige Orden, der nicht aus einer Schlacht stammt. Sie ist das einzige Zeugnis einer flüchtigen Liebesaffäre, die so kurzlebig war wie der Winter in dieser Stadt. Sie hatte sich mit einem Arzt, Kettenraucher und einziger bekennender Kommunist an der Schule, angefreundet, der sich gerne davor und danach mit einer Zigarette in der Hand an sie kuschelte. Das Rauchen stellte er nur für die exakte Dauer des Geschlechtsaktes ein, die in etwa der Zeit entsprach, die eine Zigarette braucht, um im Aschenbecher herunterzubrennen. „Kannst du die Raucherei nicht wenigstens im Bett lassen?“, fragte sie, als sie einmal wieder nach einem kurzen, heftigen Liebesakt nebeneinander lagen. Sein Geruch, diese Mischung aus Feuchtigkeit, Schweiß und den filterlosen K 2, die er rauchte, um seine Solidarität mit den Arbeitern dieser Welt zu bekunden, rief Übelkeit bei ihr hervor. „Aber warum denn? Sind die zu billig für dich?“ Er versuchte, ihr die Zigarette zwischen die Lippen zu stecken. Sie schlug ihm aufs Handgelenk, und die Zigarettenglut versengte ihr die linke Brust.
Alice Bhattis Körper ist ein kompaktes kleines Kriegsgebiet, auf dem die rivalisierenden Soldaten, die darüber hinweggetrampelt sind, ihre Spuren hinterlassen haben. Sie hat sich oft genug gewehrt, mit weniger genau berechneter Gemeinheit zwar und ganz bestimmt nicht mit einer Feuerwaffe, aber sie hat nie eine Wunde empfangen, ohne zu versuchen, selbst eine zuzufügen. Und wie anderen schlachterprobten Kriegern ist es ihr gelungen, ihren Kampfgeist zu bewahren, auch wenn sie vergessen hat, warum sie überhaupt eine Kämpferin geworden ist.
Ihre ruhigen holzkohlegrauen Augen verbergen diesen Geist. Nur ein jahrelanger Feldzug im Namen Yasus kann eine solche Gelassenheit hervorbringen, eine Gelassenheit, die sie sowohl ihrem inneren Glauben als auch ihren beiden Fastentagen in der Woche verdankt. Ob sechsundvierzig Grad Hitze, Stromausfall oder mildes Winterwetter herrschen, nichts kann Alice Bhatti aufhalten. Sie ist eine Allwetter-Kämpferin, und das auf jedem Terrain.
Im Abschlussjahr auf der Schwesternschule, als sie glaubte, es herrsche Waffenstillstand mit den Tafel-Mädchen, da sie alle vor der Prüfung standen und den Stoff von drei Jahren zu wiederholen hatten, gelangte Alice Bhatti an die Grenzen ihrer Hingabe. Er höchstselbst ließ sie im Stich, als sie Ihn am meisten brauchte.
Sie befand sich im Operationssaal und verfolgte mit scharfen Blicken eine OP. Der Chirurg, der bereits in den Achtzigern und berühmt dafür war, dass er die Patienten aufschnitt und erst dann wieder zusammennähte, wenn er sein Honorar in bar gezählt hatte, bekam einen Hustenanfall. Hinter seiner Maske warf er Alice einen vorwurfsvollen Blick zu, als trüge sie die Schuld daran. Die OP-Schwester, die ihm assistieren sollte, hatte sich im letzten Moment krank gemeldet, und man hatte keinen Ersatz gefunden, weil der berühmte Chirurg auch dafür berühmt war, dass er die Schwestern im OP wie Mülltonnen in Uniform behandelte. Er hielt eine Vene, die er gerade durchtrennt hatte und verknoten wollte, mit der Pinzette, während er Alice unter hartnäckigem Husten bedeutete, ihn abzulösen. Alice nahm die Pinzette und betrachtete die Vene, die ihr durchaus wie ein Wunderwerk des Herrn erschien. Und zum ersten Mal in ihrem Berufsleben fühlte sie sich erhoben, spürte Seine Gegenwart. Sie fühlte sich bedeutend und unbedeutend zugleich. Sie hielt ein Leben zwischen den Spitzen der Pinzette. Es konnte nur eine höhere Macht sein, eine Macht, die über Leben und Tod gebot, die ihr die Waagschalen in die Hände gelegt
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