Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt
hastet, hört sie den ersten Schrei des Babys, gefolgt von einer Reihe kleinerer Schreie. Sie klingen wie Fragen: Was ist los? Bin ich nicht tot? Wo rennst du hin? Bei wem lässt du mich? Kannst du mich nicht mitnehmen?
dreiundzwanzig
Alice Bhatti ruht gegen den Stamm des Old Doctor gelehnt. Mit der linken Hand bedeckt sie die halb geschlossenen Augen, den rechten Arm hat sie zur Seite ausgestreckt, ein träger Buddha, der darauf wartet, dass seine Stunde kommt. Andere sind hier, um geheilt zu werden, um seelische Unterstützung oder Feuerholz zu suchen. Alice ist hier, um in seinem kühlen Schatten einen kurzen Schlaf zu finden. Ihr Kopf passt genau zwischen die riesigen Wurzeln, die sich aus der Erde winden. Kein sehr bequemes, aber ein solides Ruhekissen. Und Alice braucht etwas Solides in ihrem Leben, auf das sie sich stützen kann, umso mehr nach dem Vorfall im Kreißsaal. Sie ist überrascht, dass sie bei ihrer Flucht vor Seniors Männern, während der sie krampfhaft ihre Pistole umklammert hielt, mehr Angst um das Baby hatte als um sich selbst. Dieser sture, kleine Säugling hat sie aus der Ruhe gebracht. Aber nicht nur er. Keine Ruhe lassen ihr auch die vielen Menschen, für die sie nun nicht mehr die fleißige Krankenschwester ist, die mitunter mehr tut als ihre Pflicht, sondern eine Heilsbringerin, die kein Recht mehr auf eine regelmäßige Mittagspause hat.
Ein brauner Hund mit schlammigen Pfoten und nur einem Ohr will Alice Bhattis Zehen lecken. Alice schlägt die Augen auf. Sie bewegt ihre Füße nicht, doch der Blick, mit dem sie die Hündin fixiert, sagt: Heute nicht. Das Tier weicht zurück, legt sich auf den Rücken und streckt die schlammigen Pfoten und rauchig rosa Zitzen in den Himmel.
Durch das staubige Blattwerk des Old Doctor tröpfelt Sonnenlicht auf Alice wie das Wasser aus Teddys rostiger Dusche im Al-Aman-Apartment. Mit zusammengekniffenen Augen verfolgt sie den Kurs einer kuhförmigen Wolke und versucht, die Sekunden zu zählen, bis die Sonne sie verschluckt. Um sie herum lagern überall Patienten, die auf ihre Aufnahme ins Krankenhaus warten, gemeinsam mit ihren Familien, als wären sie auf einem Picknick, das einfach zu lange dauert. Einige von ihnen sind bereits entlassen. Man hat ihnen gesagt, sie sollen nach Hause gehen und beten, dennoch bestehen sie darauf zu bleiben, glauben, das Leben schulde ihnen eine weitere Chance, hoffen, dass ihr Todesurteil revidiert wird oder zumindest der Old Doctor ein altmodisches Wunder wirkt. Ein Mann mit Elefantenfuß raucht feierlich eine Zigarette, als würde er heilende Dämpfe inhalieren. Ein drahtiger alter TB-Patient, der den weißen Schal seiner jungen Frau zum Mundschutz umfunktioniert hat, beschimpft ihn unentwegt. Eine stämmige alte Frau, deren einzige Krankheit ihre Armut zu sein scheint, baut sich vor Alice auf und verlangt Geld. Alice greift in die Tasche ihres weißen Kittels und reicht ihr, ohne aufzuschauen, einen Zwei-Rupien-Schein. „Was kann ich mir denn von zwei Rupien kaufen? Das reicht ja nicht einmal für ein paar Bonbons. Gib mir Xanax oder wenigstens Lexo.“ Alice streckt der alten Frau die Hand entgegen und fordert sie auf, die zwei Rupien zurückzugeben. Die Frau versteckt die Hand mit dem Geld hinter dem Rücken und bohrt Alice langsam einen Zeh zwischen die Rippen. „Allah hat dich mit so vielem gesegnet. Kannst du mir nicht etwas Valium geben?“ Alice verscheucht sie und versucht, sich auf ihren Mittagsschlaf zu konzentrieren und nicht an die rote Blase in der Nase des Babys, seine kleinen, sich regenden Zehen und Hina Alvis angstvolles Gesicht zu denken. Im Augenblick hat sie keine Angst. Sie schließt fest die Lider, damit die Sonne, die jetzt stärker durch die Äste des Old Doctor brennt, nicht hindurchdringt. Scheinbar von Ferne erhebt sich eine kühle Brise, die Sonne verschwindet, unvermittelt sinkt die Temperatur, und Alice Bhatti döst hinüber in ein üppiges grünes Tal, in dem Kühe aus weißer Wolle schweben und vornehm über die Nebenwirkungen verschiedener Schlafmittel diskutieren.
„Warum bist du so verstört, mein Kind?“, liebkost eine weiche Stimme ihr linkes Ohr. „Ich war es, der das tote Kind erweckt hat.“ Alice lächelt. Zuerst bei der Vorstellung, dass Er zu ihr spricht, dann bei dem Gedanken, dass Er die Antwort doch kennen müsste, wenn Er es ist, der zu ihr spricht. Sie ist nicht erfreut, dass Er sie ausgerechnet in der Mittagspause aufsucht. Keinen Moment glaubt sie an den
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