Alice Bhattis Himmelfahrt - Hanif, M: Alice Bhattis Himmelfahrt
hatte, und nun war es an ihr, Seinen Willen auszuführen. Der Gedanke an das Wort Yasu, der die Toten zum Leben erweckte, blitzte für eine Sekunde in ihr auf; ansonsten war sie ganz auf ihre bevorstehende Aufgabe konzentriert. Der Hustenanfall des Chirurgen geriet völlig außer Kontrolle und er musste den Operationssaal verlassen. Zuvor gab er Schwester Alice noch mit erhobenem Daumen das Okay. In diesem Bruchteil einer Sekunde vergaß sie, was Berufsmediziner auf der ganzen Welt in ihren erstendrei Monaten über chirurgische Verfahren lernen: Bei jedem dritten Herzschlag muss ein Tropfen Blut abgelassen werden, damit die Vene atmen kann. Angespornt von der Billigung ihres Herrn presste Schwester Alice die Vene mit der gesamten Kraft ihres Glaubens zusammen, bis diese dem andrängenden Blut nicht länger standhalten konnte und – sich windend wie ein winziger, wahnsinnig gewordener Gartenschlauch – an mindestens siebzehn Stellen gleichzeitig barst.
Schnaufend wie ein altes Automobil, die Maske in der behandschuhten Hand, kehrte der Chirurg zurück, streifte die Handschuhe ab und schüttelte mit gespielter Verzweiflung den Kopf. „Was bringen sie euch dort bloß bei? Wie man Patienten schlachtet?“ Alice hielt die Vene noch immer mit der Pinzette fest, als wäre sie eine Babyschlange, von der sie nicht wusste, ob sie tot war oder sich nur tot stellte. „Sie können jetzt loslassen“, sagte der Chirurg. „Sie läuft nicht weg.“
Die Verwandten des Verstorbenen hatten dem berühmten Chirurg das Honorar im Voraus bezahlt. Sie zahlten noch ein bisschen mehr an die Polizei, und gegen das Krankenhaus wurde Anzeige wegen fahrlässiger Tötung erstattet. Der berühmte Chirurg zahlte einem berühmten Anwalt die Hälfte seines Honorars, hinterlegte eine Kaution und blieb auffreiem Fuß. Die Polizei lud Alice Bhatti zu einem informellen Gespräch auf das Revier, um, wie es hieß, die Fakten zu klären. Sie war froh, gegen den Chirurgen aussagen zu können, musste auf dem Revier aber feststellen, dass sie keine Zeugin war, sondern die Hauptangeklagte. Die Schwesternschule hatte beschlossen, sich eines Störenfrieds zu entledigen. Ohne jede Vorwarnung fand sie sich in Polizeigewahrsam wieder. Dr. Pereira wurde erst benachrichtigt, als der Fall bereits aktenkundig war. Ein Hohn auf die Gerechtigkeit, wie er jedem verkündete, der es hören wollte. Nachdem er überall herumgerannt war und sich Hochwürden Philips Unterstützung gesichert hatte, indem er ihm den Zeitungsausschnitt zeigte, in dem der Catholic Courier Alice als „Yasus tapfere Soldatin“ beschrieb, schaffte Dr. Pereira es, Alice in ein Untersuchungsgefängnis für Frauen verlegen zu lassen. Dort wurde sie zwar auch geschlagen, aber man ließ sie wenigstens nachts einige Stunden schlafen.
Als es Dr. Pereira gelang, sie auf Kaution freizubekommen, machte sie sich umgehend auf den Weg zur Klinik des berühmten Chirurgen, behauptete am Empfang, sie schulde ihm Geld, und stürmte in sein Büro. Bevor der berühmte Chirurg um Hilfe schreien oder einen Knopf drücken konnte, hob sie einen marmornen Blumentopf vom Fensterbrett und zielte auf seinen Kopf. Er ging gleich beim ersten Treffer zu Boden. Das rettete ihn, wenn er auch eine gebrochene Nase davontrug und vier Vorderzähne aus seinem Schweizer Importgebiss fehlten.
Dr. Pereira hatte versucht zu verhindern, dass Anklage wegen des Kunstfehlers erhoben wurde, konnte jedoch die Gemeinde nicht hinter sich bringen, um die Anklage wegen „schwerer Körperverletzung mit Tötungsabsicht“ anzufechten, weil das Opfer ein überaus berühmter Chirurg war. Aus diesem Grund musste Alice Bhatti die Abschlussprüfung in der Besserungsanstalt machen. Ihr Praktikum bestand jetzt darin, Mittel gegen Magenbeschwerden für die Insassinnen zu improvisieren.
„Die Welt ist ein einsamer Ort. Du wirst so lange einsam sein, bis du für deine Sünden gebüßt hast.“ Schwester Alice weiß, was Er meint. Sie hat ihr Leben lang jeden Sonntag dieses Geschwätz über die Erbsünde und die ewige Erlösung gehört. Man kann nicht in French Colony aufwachsen, ohne bis zum Erbrechen mit Gott gefüttert zu werden. Seine Gegenwart durchdringt hier alles, genauso wie der Gestank der offenen Kanalisation. Sie hat sich mit Ihm abgefunden, wie die Menschen sich mit dem Wetter abfinden. Es lässt sich nicht beherrschen, also muss man lernen, damit umzugehen. Man kann sich eine Klimaanlage einbauen lassen und einen Baum pflanzen, vielleicht
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