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Alicia - Gefaehrtin der Nacht

Alicia - Gefaehrtin der Nacht

Titel: Alicia - Gefaehrtin der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Michelsen
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gespürt, viele Monde lang, und nun fiel mir das Loslassen schwer.
    Laurean kniete neben mir nieder, schob die Arme unter mich und hob mich mühelos auf. Dann trug er mich aus der Nische der Salizarengruft, in der Alesh meinen Leib verlassen hatte. Auf seinen Armen durchquerte ich die Gruft, wo rege Betriebsamkeit herrschte. Es war bereits verkündet worden, dass der künftige Retter der Salizaren sich in der Obhut der Blutammen befand. Viele Brüder und Schwestern standen in Schlangen an, um ihr Blut für die Aufzucht des jüngsten Abkömmlings zu spenden.
    Dieses verfluchte Menschenblut, dachte ich, und bettete meinen Kopf an Laureans Schulter, während er mich die steile Steintreppe zur Villa hinauftrug. Ich konnte ihm nicht böse sein, denn er kannte es nicht anders. Die Salizaren empfanden sich nicht als Eltern wie die Menschen, auch wenn wir deren Gestalt hatten und die Abkömmlinge auf ähnliche Weise zeugten und gebaren. Zwischen den Generationen wurde ebenso wenig unterschieden wie zwischen den Geschlechtern. Ein ausgewachsener Salizar alterte nicht und so gab es auch keinen Unterschied zwischen Jung und Alt, Erzeuger und Abkömmling. In dieser Welt, in der ich nun lebte, galt mein Kummer als unnötige und abseitige Regung. Es wäre schlicht als unnatürlich angesehen worden, wenn ich Alesh bei mir behalten hätte, ihn womöglich an der Brust säugen würde. Stattdessen würde Alesh mit dem reinsten Salizarenblut ernährt werden. So war es vorbestimmt. Ich wusste das alles und ich spürte bereits, wie der Widerstand gegen diese Fügung in mir schwand.
    «Du wirst es überwinden », sagte Laurean und bettete mich auf unser Lager. Ein Frösteln überzog meinen nackten Körper, obwohl das nächtliche Kaminfeuer noch brannte. Laurean legte sich neben mich, berührte das Amulett und murmelte einige unverständliche Worte. Ich spürte, wie die Kraft in meinen Körper zurückkehrte und die Wunde zwischen meinen Beinen wie im Zeitraffer verheilte.
    Ich fletschte die Zähne.
    «Siehst du», sagte Laurean und senkte den Hals, damit ich ihn leichter erreichen konnte. Als ich die Hauptader unter der bleichen Haut pochen sah, beugte ich mich hinunter und legte meine Lippen auf die Stelle. Dann biss ich knurrend zu.
    Laurean hatte recht gehabt: Der Moment menschlicher Schwäche war bereits überwunden und ich hörte auf, Alesh zu vermissen. In unserer Welt gab es weder einen Grund noch Platz für Trauer. In der darauffolgenden Nacht begab ich mich auf die Jagd nach Beute, als wäre nichts geschehen, ich folgte dem ewigen Rhythmus von Tag und Nacht. Laurean blieb mein bevorzugter Gefährte, aber ich hatte vollends die Vorstellung abgelegt, dass wir einander auf diese ausschließliche Weise gehörten, die den meisten Menschen so wichtig war. Eifersucht und Besitzdenken waren aus meinem Denken ebenso verschwunden wie die Sorge um Zukunft und Geld oder das Streben nach beruflichem Fortkommen. Ich fühlte mich frei und unbeschwert, da ich mich um all diese Dinge nicht mehr ängstigen musste. Von dieser nutzlosen Bürde befreit war ich unbesiegbar.
     
    Eines Nachts streifte ich durch die Straßen der Stadt, als ein schriller Aufschrei mich von der Beute ablenkte. Es war ein Mann, der scheinbar ziellos durch die Stadt gestreift war und dem ich seit Längerem unauffällig folgte. Wir befanden uns in einem kleinen Waldstück, das an ein Wohngebiet grenzte. Die günstige Gelegenheit, auf die ich die ganze Zeit gewartet hatte, stand unmittelbar bevor. Nun blieb ich stehen und lauschte. Der Schrei war ganz aus der Nähe gekommen. Der Mann hielt ebenfalls inne und schien zu lauschen. Eine Frau in Not? Vielleicht meinte er, sich verhört zu haben, oder es war ihm gleichgültig, jedenfalls ging er nach kurzer Pause weiter.
    Der Laut hatte mich alarmiert. Ich ließ die Beute ziehen, drückte mich in das Unterholz und horchte angestrengt in die Dunkelheit. Bis auf die gedämpften Geräusche der nächtlichen Stadt war nichts zu hören: Irgendwo ratterte eine Bahn, ein Auto hupte, menschliche Stimmen und das Bellen eines Hundes. Da erklang ein erneuter Aufschrei, dann ein gequältes Keuchen. Mit der Luft sog ich bittere Schwaden ein, ich witterte sofort die Gefahr und begriff, dass hier kein Mensch in Not war. Ich fletschte die Zähne und schlüpfte lautlos zwischen den Bäumen hindurch.
    Durch das Geäst machte ich zwei Schatten aus, die auf einer kleinen Lichtung miteinander rangen. Ich hielt inne. Der Gestank nach fauligem Fleisch war

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