Alicia II
Manche Leute hielten es für einen teuflischen Plan, die Bevölkerungszahl immer weiter zu erhöhen.
Es sind nie genug Körper da, sagten die Erneuerungsspezialisten. Die Perioden der Dunkelheit, in der die individuellen »Seelen« auf ihre neuen Körper warteten, wurden länger und länger. Die Ärzteschaft sei daran schuld, behaupteten manche. Wenn sie das Leben nur über das Durchschnittsalter von neunzig hinaus verlängern könnten! Die Ärzte wiederum machten den Medien zum Vorwurf, daß sie die Massen in einen Zustand fortgeschrittener sexueller Stimulation drängten, ja geradezu zwängen, nur damit wir mehr Babys bekämen. Die Analytiker der politischen und sozialen Verhältnisse meinten, die Erzeugung von mehr Babys sei keine echte Lösung. Gleichzeitig mit zusätzlichen Körpern für den Erneuerungsprozeß wüchsen auch zusätzliche Qualifizierte heran, die schließlich ihrerseits auf die Liste gesetzt werden müßten und neue Körper benötigten. Und dann werde von neuem nach einer höheren Geburtenziffer gebrüllt.
Nun, dachte ich, wenigstens ist dabei für mich ein neuer Körper abgefallen. Dann schüttelte mich das Entsetzen über meinen eigenen Zynismus.
6
Die Luft des Rapzug-Bahnhofs war dick von Gestank. Ich meinte, einzelne Schichten wahrzunehmen: erhitzte Körper, ungenügende Pissoirs, den Abfall der Gleichgültigkeit, all den Rost und Staub, der den Reinigungsmannschaften unschwer entgeht. Ich wartete, Alicias Hand in meiner. Vor uns stand ihr Vater, und an den übrigen drei Seiten waren wir von anderen Reisenden eingekeilt. Ich spürte sie förmlich gegen meinen Rücken, meine Schultern, meine Brust drücken. Ich hatte ein Netzhemd und Hosen aus dem sogenannten »Kühlschrank«-Stoff angezogen, der einen von der Hitze draußen isolieren sollte, jedoch (wie ich jetzt entdeckte) inmitten einer Menschenmenge nicht funktionierte. Ich stellte mich auf die Zehen, um einen Atemzug frischer Luft zu erhaschen, und dann setzte ich meine Fersen auf die Füße von jemand anders.
Wir murmelten beide eine Entschuldigung, obwohl es ebenso wenig sein Fehler gewesen war wie meiner, weil er von einer dritten Person, vielleicht mehrere Reihen hinter ihm, vorwärtsgeschoben worden war.
Nicht imstande, mich umzudrehen, verrenkte ich mir den Hals, soweit es mir meine protestierenden Nackenmuskeln gestatteten, und sah den rotgesichtigen Herrn hinter mir aus den Augenwinkeln an.
»Wenn Sie die Füße auseinandersetzen könnten«, begann ich, »dann wäre es vielleicht …«
»He, Ernie!« sagte der Rotgesichtige, »ich habe dich von hinten gar nicht erkannt.«
Er berührte meinen bloßen Arm mit schwieligen Fingerspitzen.
»Es tut mir leid, aber Sie müssen sich …«
Meine Entschuldigung ging unter in dem langen Heulton des einfahrenden Zuges. Wir schafften es in den Zug, gerade als das Besetzt-Zeichen anging und die Leute hinter uns vor dem Einstieg ausgeschlossen wurden. Nur der rotgesichtige Mann quetschte sich in der kurzen Zeit, bevor die Schleusentür einrastete, noch hindurch.
»Das war knapp, was, Ernie?« lächelte Rotgesicht und zog eine gewürfelte Robe enger um sich. »Aber was soll’s, zum Teufel, ich muß sowieso bald gehen. Man hat mir die doppelte Versicherungssumme für meine Frau angeboten, wenn ich vor der Zeit gehe. Aber ich habe ihnen gesagt, was sie mit dem Geld machen können. Verdammt, meine Alte hat ja auch nur noch zwei Jahre vor sich. Soll es also an die Kinder fallen? Laß sie für sich selbst sorgen, sage ich immer. Gottverdammt, eins davon hat sich noch dazu qualifiziert. Sie sagen, darauf solle ich stolz sein, aber ich werde
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