Alicia II
beugen. Das unterbrach den Kontakt mit den Sensoren und Wellensendern, die in den Kissen steckten. Und die Wellen, die man empfing, unterlagen wiederum auf subtile Weise der Stimmung und der emotionalen Verfassung des einzelnen Zuschauers wie auch des gesamten Zuschauerkollektivs. Gewisse Aspekte des Stücks konnten durch die Intensität der Publikumsreaktion verändert werden.
Das Programmheft widmete einigen Raum auch Informationen über das heute abend gespielte Stück, das den Titel trug: Der Tod ist genau das, was du denkst, daß er sei. Aufgeführt wurde es von der Dramatischen Abteilung des Aktions- und Protest-Komitees von Hough, ein hochtrabender Name für eine Organisation im Herzen eines in Mode gekommenen Rote-Lampen-Viertels.
Mary schien in Gedanken versunken zu sein. Sie hatte ihr Programm zusammengerollt und versuchte, den Zylinder fester zu wickeln. Zweimal sah sie über ihre rechte Schulter.
»Stimmt etwas nicht?« fragte ich.
Sie nickte.
»Ich sage es dir lieber gleich. Ich glaube, zwei von Sams Männern stehen hinten im Zuschauerraum.«
»Und du meinst, sie sind unseretwegen hier?«
»Ich meine, sie sind deinetwegen hier. Aber wer weiß? Sie können auch jemand anders suchen. Vielleicht ist es ihr freier Abend, und sie sind begeisterte Theaterbesucher. Was ich bezweifele. Ich würde vorsichtig sein, wenn ich du wäre. Schließlich bist du derjenige, der stolz wie ein Hanswurst davonging, als Sam wütend auf dich war.«
Mary sah mich seltsam an. Es war beinahe ein Katze-und-Maus-Blick, und sie war die Katze. Mir kam es so vor, als mache es ihr Spaß, daß ich von diesen beiden Schlägern bedroht war. Ich rekelte mich möglichst natürlich auf meinem Sitz und brachte meinen Kopf so weit nach unten, wie es möglich war, ohne ganz außer Sicht zu geraten.
Plötzlich begann das Stück. Alle Lichter gingen aus. Die Schauspieler begannen damit, daß sie emotionale Laute ausstießen. Zuerst kam ein Stöhnen aus einer vorderen Ecke des Theaters, dann brach unter einer Gruppe irgendwo im Hintergrund glückliches Gelächter aus. Ein leises Summen trieb von links herbei, und ihm begegnete ein verächtliches Schnauben von rechts. Neue Laute kamen hinzu, Laute der Freude und Zufriedenheit mischten sich mit solchen des Kummers und Schmerzes. Ich merkte, daß sich Mitglieder des Ensembles zwischen den Zuschauerabteilen hindurchbewegten. Sie wurden ziemlich laut. Ein Mädchen kroch an unser Fußbodenloch und gurrte mir sinnlich ins Ohr.
Mir kam zu Bewußtsein, daß ich unkontrollierbar zitterte, und ich wußte nicht, warum. Dann fiel mir ein, daß es von den Geräten in den Kissen herkommen mußte. Ich beugte mich vor, unterbrach den Kontakt, und das Zittern hörte auf. Ich streckte die Hand aus und berührte Mary. Ihre Haut war kalt, und es schüttelte sie.
Die Laute, die die Schauspieler rings um uns ausstießen, verloren an Lautstärke. Als sie für mich leise genug geworden waren, lehnte ich mich wieder gegen das Kissen zurück. Sofort überflutete mich ein Gefühl der Erleichterung, das ich als Befreiung von heftiger emotionaler Spannung empfand. Mir war, als hätte ich den vorhin gelösten Kontakt nie unterbrochen.
Scheinwerfer gingen an und beleuchteten eine bereits im Gang befindliche Szene. Ein Schauspieler in konventioneller Straßenkleidung stand neben einer Frau, die sich in den letzten Zuckungen eines besonders schmerzhaften Todes wand. Hinter ihnen machte ein Chor die Bewegungen der Schauspielerin auf höhnische und übertriebene Art nach. Die Chorleute agierten wie groteske Clowns. Oft lachten sie in aufgeregtem Staccato.
Ich war froh, als das Mädchen sich dem letzten Atemzug
Weitere Kostenlose Bücher