Alissa 1 - Die erste Wahrheit
hatte die Bestie lange vor ihr bemerkt. Wenn Kralle also nun beruhigt war, konnte sie es auch sein. »Schöne Worte, Alissa«, flüsterte sie, »aber nicht sonderlich praktikabel.«
Während sie schlaflos in die Nacht starrte, dachte sie über die ungemütliche Tatsache nach, dass sie hier nicht die Einzige war, die den Himmel beobachtete. Das beunruhigte sie beinahe noch mehr als der Raku. Allein zu reisen war nicht klug, und obwohl Alissa wusste, dass ihr Feuer ihr Schutz vor Wölfen und Rakus gewährte, bot es doch keine Sicherheit vor anderen Menschen. Sie tröstete sich damit, dass derjenige, wer auch immer es war, vermutlich in östlicher Richtung aus den Bergen hinauswollte. Nur ein Narr wie sie selbst, hielt sie sich vor, würde sich um diese Jahreszeit in die Berge aufmachen. Wenn sie den morgigen Tag hinter sich brachte, ohne jemanden zu sehen, konnte sie den Vorfall wohl beruhigt vergessen.
Seufzend wandte Alissa sich von ihrem Feuer dem mondlosen Himmel zu. Das würde eine lange Nacht werden.
– 3 –
S trell streckte den Arm, so weit er konnte; Schweiß rann ihm in die Augen, während seine Finger nach der Kante der Felswand tasteten. Steinchen und Staub rieselten auf ihn herab, als er sie endlich fand. Doch sofort zerbröckelte sie unter seiner Hand. Mit aufgerissenen Augen suchte er verzweifelt einen anderen Halt, und sein Herz hämmerte, denn er spürte, wie er abglitt.
Er reckte die Hand verzweifelt noch höher, und diesmal hielt der Boden. Erleichtert stieß er die Luft aus, klammerte sich an die Felswand und riskierte einen Blick nach unten. Strell schluckte schwer. »Bein und Asche«, flüsterte er. »Warum tue ich so etwas?« Weil, antwortete er sich selbst, du denjenigen einholen musst, der gestern Abend auf dieser Klippe gelagert hat – sonst wirst du nie jemanden finden, der dir glaubt, dass du einen Raku gesehen hast. Nur Verrückte und Narren behaupteten, einen Raku aus so großer Nähe gesehen und es überlebt zu haben.
Strell blickte wieder hinab und verschloss die Augen vor dem Abgrund. »Das ist es nicht wert«, keuchte er und presste sich an den Fels. Doch das Geschick, das er als kleiner Junge erworben hatte, der mit seinen Brüdern mithalten wollte, wenn sie an den steilen Wänden der Schluchten in der heimischen Wüste herumkletterten, machte sich nun bezahlt. Seine Muskeln spannten sich, und als er neuen Halt für seine Zehen fand, konnte er sich hochstemmen und einen Ellbogen über den Rand schieben. Unter Stöhnen und einem Schauer kleiner Steinchen hievte er sich über die Kante.
Am Rand der Klippe blieb Strell flach auf dem Rücken liegen und lachte schwächlich über seine dumme Idee, diese Wand senkrecht hinaufzuklettern. »Aber ich habe es geschafft«, sagte er und kicherte atemlos. Der, den er suchte, musste auf einem anderen Weg heraufgekommen sein, doch Strell hatte keinen finden können.
Hoch im Südwesten kreiste ein Falke im Aufwind. Strells Blick folgte dem Vogel, der nun auf etwas am Seeufer hinabstieß. Als sei das Verschwinden des Falken ein Signal, rappelte er sich auf und löste das dünne Seil von seinem Gürtel. Er spähte über die Kante hinab und zog sein Bündel und seinen Mantel herauf. Dann rollte er das Seil sorgsam zusammen und verstaute es wieder in seinem Bündel, bevor er sich umwandte, um die verlassene Lagerstätte zu untersuchen.
Auch dieser Reisende war allein unterwegs, befand er, denn der Boden am Feuer war nur an einer Stelle von einem schlafenden Körper glatt gedrückt. Die Feuerstelle enthielt eine erstaunliche Menge halb verkohlter Zweige, die noch ein wenig qualmten und den harzigen Duft nächtlicher Sicherheit verströmten. Er lächelte und dachte sich, dass er vermutlich sogar noch mehr Holz aufgelegt hätte, wenn er von hier oben aus einen Raku entdeckt hätte. Sie waren Einzelgänger und mieden für gewöhnlich die Menschen, bis auf gelegentliche Vorstöße, wenn es allzu kalt wurde; danach verschwanden sie wie die Wölfe wieder in den verfluchten Nebel, der ständig über diesen Bergen hing.
Strell schöpfte Hoffnung, als er den Anfang eines Pfades entdeckte, der ostwärts in den dichten Wald führte. Er würde ein strammes Tempo anschlagen müssen, um diesen anderen Reisenden einzuholen, ehe der die Ebene erreichte und sich die Spur auf den vielen Wegen verlor. Sein unsichtbarer Mitreisender musste ebenfalls auf dem Weg ins Tiefland sein. Nur ein Narr würde es so spät im Jahr noch riskieren, die Berge zu
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