Alissa 1 - Die erste Wahrheit
überqueren. Strell war ein recht passabler Fährtenleser und brannte darauf, den Unbekannten nicht nur nach dem Raku, sondern auch nach der Musik zu fragen. Es war lange her, seit er zuletzt eine so traurig-schöne Melodie gespielt hatte, und er wollte sie gern noch einmal hören. Gestern Nacht hatte er nicht alle Nuancen erfassen können.
Plötzlich fiel ihm etwas ein, und er strich mit der Hand über die dicken Stoppeln an seinem Kinn. Vielleicht sollte er sich vorher ordentlich rasieren. Er näherte sich vertrautem Gebiet. Das wäre eine passende symbolische Handlung, befand er, nahm seinen Hut auf und kramte in seinem Bündel nach Seife und Spiegel. Er würde seinen barbarischen Bart mitsamt diesen barbarischen Bergen hinter sich lassen. Es würde ja nicht lange dauern, sagte er sich. Der Mensch, dessen Spur er folgte, könnte jemand sein, den er kannte – und er hatte schließlich einen Ruf zu wahren.
Mit einem leisen, zufriedenen Seufzen nahm Strell ein Stück Stoff, mit einem Seetang-Muster durchwebt, aus seinem Bündel und wickelte den Spiegel darin aus. Der ungewöhnliche Stoff war für seine Mutter. Für seinen Vater hatte er ein Päckchen Salz dabei. Er hatte eine Woche gebraucht, um den Salzer zu überreden, dass er es ihm beibrachte, doch er hatte dieses Salz tatsächlich selbst hergestellt. Die Falten des Stoffes bargen außerdem ein stumpfes Messer, ein Fässchen Tinte, ein Päckchen Wachs, zwei Würfel aus Fischbein und einen neuartigen Knoten. All das war für seine Brüder. Für seine Schwestern hatte er ein Säckchen trockener, purpurroter Glasurfarbe dabei, ein Glöckchen für eine Fußspange, zwei wunderbar zueinanderpassende Muscheln und einen fest eingewickelten Brocken Seife, der stark nach Blumen roch. Überraschenderweise war das Glöckchen am teuersten gewesen – es hatte sogar noch mehr gekostet als der Spiegel.
Strell nahm das geborstene Glas aus seiner Schatulle und lehnte es ehrfürchtig vor sich an das Bündel. Einzig an der Küste war Glas noch so verbreitet, dass damit gehandelt wurde. Die
Hügelpocken hatten den einzigen Clan in der Ebene ausgelöscht, der die Kunst der Glasherstellung beherrscht hatte. Östlich der Berge gab es praktisch gar kein Glas mehr, ganz gleich in welcher Form.
Strell legte seine Mitbringsel beiseite, goss ein wenig von der Sonne gewärmtes Wasser aus seinem Wasserschlauch in eine Schüssel und schäumte sein dünnes Restchen Seife auf. Er zog das Rasiermesser aus dem Futteral in seinem Stiefel und begann, sich den dünnen Schaum vom Gesicht zu kratzen. Nur das leise Rauschen des Windes in den Kiefern, das Schaben seiner Klinge und das Rascheln eines Eichhörnchens im Laub störten die Stille. Bald war Strell fertig und betrachtete sich im Spiegel, wobei er sich fragte, was seine Eltern wohl für einen Eindruck von ihm haben würden.
Aus dem Glas blickten ihm zwei Tiefländer-braune Augen entgegen, und eine scharf gebogene Nase, die einmal zu oft gebrochen worden war. Seine Wangen waren vom Rasieren gerötet, die übrige Haut von langen Jahren im Freien gebräunt. Strell wandte das erhobene Gesicht hin und her. Er hatte eine kleine Kinnspalte, und wenn er nicht aufpasste, verfehlte er dort leicht ein paar Bartstoppeln. Zufrieden fuhr er mit der Hand durch sein dunkles, sanft gelocktes Haar, um es irgendwie in Form zu bringen.
Als jüngster Sohn war er immer kleiner gewesen als seine Brüder. Doch das Reisen hatte ihm gutgetan. Ich wette, jetzt könnte ich Sarmont auf gleicher Höhe in die Augen sehen, dachte er. Sarmont war der Älteste, und er gab sich große Mühe, das niemanden vergessen zu lassen. Strell rieb sich bei der Erinnerung an alte Verletzungen die Nase. Kichernd musste er sich eingestehen, dass er das verdient hatte – jedes Mal.
Strell kippte sein Rasierwasser über den Rand der Klippe, packte alles wieder ein und legte gegen die Kühle unter den dichten Bäumen seinen Mantel an. Dieser war fast nagelneu und besaß noch die üppige, dunkle Farbe von geöltem Holz. Er reichte bis an den Schaft seiner Stiefel hinab, bedeckte also jeden Fingerbreit seiner langen Beine, und Strell war ziemlich stolz darauf.
»Nur noch eine Woche länger in diesem letzten Dorf«, sagte er bedauernd zu sich selbst, »und ich hätte einen bodenlangen kaufen können.« Oder einen neuen Hut, fügte er lautlos hinzu, als er seinen zur Hand nahm. Vor sechs Jahren war das ein prächtiger Hut gewesen, doch er war so oft in den Staub getreten, durchweicht und
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