Alissa 1 - Die erste Wahrheit
nicht annähernd so gemütlich aus, doch der Teppich war neuer. Ein schwacher, schaler Geruch verschwand, noch während sie dort standen. Strell drehte sich langsam mit ausgestreckten Armen um sich selbst. »Was meinst du?«
»Dieses Zimmer ist auch nicht größer als meines.«
Er seufzte in gespielter Niedergeschlagenheit. »Man muss eben Zugeständnisse machen können.«
Alissa beobachtete erstaunt, wie Strell sich vor den Kamin kniete und den Hals verrenkte, um in den Schacht hinaufzuschauen. »Das habe ich mir gedacht«, sagte er, stand auf und klopfte sich die Knie ab.
»Wovon sprichst du überhaupt?«
Strell wies mit einem Nicken auf die Wand. »Siehst du, wo der Kamin im räumlichen Verhältnis zu deinem ist? Sie haben einen gemeinsamen Rauchabzug.«
»Und?« Alissa verstand nicht, warum das so wichtig sein sollte.
»Und deshalb will ich hoffen, dass du nicht schnarchst.«
Alissa schnaubte empört. Strell packte die Sessellehne und zerrte das Möbelstück zur Tür. »Was tust du denn da?«, rief sie und sprang aus dem Weg.
»Du erwartest doch nicht von mir, dass ich auf dem Boden sitze, oder?«, brummte er und schleppte den Sessel hinaus in den Flur und in ihr Zimmer.
»Äh … nein, wohl nicht.« Sie folgte Strell und stellte fest, dass er die beiden Sessel bereits gemütlich vor dem Kamin zurechtgerückt hatte.
»Setz dich«, befahl er. » Ich koche den Tee.«
Dankbar sank Alissa in die vom Feuer erwärmten Kissen, und während die Nacht hereinbrach, unterhielten sie sich und genossen das neue Gefühl, unter einem Dach und vor einem Kamin zusammenzusitzen. Strell war überzeugt davon, dass ihr »Talent«, wie er es nannte, die Türen geöffnet hatte. Er hatte keine Ahnung, weshalb Bailic so heftig auf ihre Pfiffe reagiert hatte. Ihm zufolge waren sie »gar nicht so laut« gewesen, und seiner Meinung nach war leider allzu offensichtlich, dass Bailic erkannt hatte: Sie waren nicht einfach zwei Reisende, die der Schnee überrascht hatte. Strell glaubte, dass der Bewahrer ein grausames Katz-und-Maus-Spiel mit ihnen trieb. Vielleicht, meinte Strell, waren sie für Bailic nur eine willkommene, unterhaltsame Abwechslung. Vielleicht wollte er auch nicht mehr essen, was er selbst am Kochtopf zustande brachte.
Alissa schlief mit dem Gedanken an Kartoffeln mit weißer Sauce ein, unabsichtlich, natürlich, in ihrem gemütlichen Sessel vor dem Feuer. Strell musste sie zugedeckt haben, denn als sie später erwachte, weil ein Scheit im Feuer knackend herunterfiel, fand sie sich in ihre Decke gehüllt. Lächelnd kuschelte sie sich tiefer in die kratzige Wolle. Sie hatte fast einen Monat lang im Freien auf dem Boden geschlafen. Ihr Sessel war groß genug, um sich darin behaglich einzurollen, und sie war selig darüber.
Die Glut glomm im Kamin und spendete gerade genug Licht, dass sie Strell erkennen konnte, der in seinem Sessel zusammengesunken leise schnarchte, die schlaksigen Beine fast bis in den Kamin ausgestreckt. Auch er war der einschläfernden Wirkung eines vollen Magens und eines warmen Feuers erlegen, ehe er sein Bett erreicht hatte. Alissa blickte zu Kralle auf und stellte überrascht fest, dass der Vogel noch wach war. Kralle spähte zu ihr hinab, plusterte das Gefieder auf und gab beruhigende Laute von sich.
»Hältst du Wache, altes Mädchen?«, flüsterte Alissa und schloss die Augen. Sie hatte es zu behaglich, um sich von der Stelle zu rühren, und war zufrieden damit, ihre erste Nacht in der Feste genau da zu verbringen, wo sie sich gerade befand.
– 20 –
B ailic hockte zu später Stunde brütend in seinen Gemächern. Drei Kerzen hinter ihm erhellten die Seite, die er studierte, und er beugte sich vor, um mit zusammengekniffenen Augen die schnörkelige Schrift besser erkennen zu können. Nun las er diese Seite bereits zum dritten Mal, doch er konnte sich den Inhalt noch immer nicht merken. Wie man eine geschlossene Population so manipulierte, dass sie eine bestimmte gewünschte Eigenschaft hervorbrachte, war thematisch keineswegs zu schwierig für ihn, doch Keribdis hatte diesen Text verfasst. Ihr Gekritzel war nur schwer zu entziffern.
Bailic lehnte sich zurück und dehnte die schmerzenden Schultern. Er würde es morgen früh noch einmal versuchen, wenn das Licht besser war. In der grellen Sonne würden seine Augen schmerzen, doch er brauchte das Sonnenlicht zum Sehen, genau wie jeder andere – vielleicht sogar noch mehr. Bailic legte das Buch beiseite. Er wusste, dass er sich
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