Alissa 1 - Die erste Wahrheit
Feuer einmal ganz erlosch. Ein erfreutes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, als sie ein Körbchen Zunder und Feuersteine entdeckte, genau an der Stelle, wo sie zu Hause auch gelegen hätten. Sie nahm sie herunter und schichtete das alte Holz auf.
»Süß wie Kartoffeln«, brummte Strell und ließ sich in ihren Sessel sinken. Kralle schalt ihn zwitschernd und hackte sacht nach seinem Hut.
Alissa wandte sich vom Kamin ab und machte es sich auf dem Boden davor gemütlich. Sie würde sich eine Weile gut um das Feuer kümmern müssen; außerdem war es hier am wärmsten. »Er hat Verdacht geschöpft, nicht wahr?«, fragte sie und hielt den Blick auf ihre Stiefel gerichtet. Sie mussten dringend wieder einmal geölt werden, doch sie wollte das nicht tun. Sie ließ die Schultern hängen, als Strell seine Position im Sessel veränderte.
»Vermutlich. Ich denke, er glaubt nicht einmal mehr an seine eigene Version der Wahrheit, von unserer ganz zu schweigen.« Er wandte den Blick ab. »Ich will nicht dein Bruder sein, aber lieber das als ein – das, was er denkt. Bleiben wir bei unserer Geschichte. Aber trotz alledem« – er lächelte schwach – »hast du vielleicht bemerkt, dass ich derjenige bin, den er zum Schweigen verdammt hat, und nicht du.«
Alissa riss die Augen auf. »Er glaubt, die Gefahr ginge von dir aus. Strell! Du darfst nicht für mich den Sündenbock spielen.«
»Vielleicht hast du ebenfalls bemerkt, dass ich noch da bin und du jetzt ein hübsches Zimmer hast. Offensichtlich ist er nicht ganz sicher, oder er glaubt, er könnte mich zu seinem Vorteil ausnutzen.«
Sie unterdrückte ein Schaudern. Bailic könnte Strell dessen geheimste Gedanken entreißen und doch nichts finden, was für ihn von Interesse wäre. Was Bailic dann tun würde, wollte sie sich lieber nicht ausmalen. »Das geht nicht, Strell«, flehte sie. »Im Augenblick spielt er den höflichen Gastgeber, aber das könnte sich blitzschnell ändern.«
»Ich weiß«, erwiderte er leichthin, »aber es ist mir lieber, er beobachtet mich, und nicht dich.«
»Aber –«
»Lass mich ausreden«, sagte Strell und hob mahnend die Hand. »Drei Gründe. Erstens: Nimm es mir nicht übel, aber du bist nicht sonderlich gut darin, Menschen zu täuschen. Ich kann seine Aufmerksamkeit von dir und möglichen weiteren Fehlern ablenken – dass du etwa eine Tür aufschließen kannst, die mir verschlossen war.«
»Oh«, sagte sie und begriff erst jetzt, was dieses Kribbeln bedeutet hatte. Vielleicht sollte sie es doch noch einmal mit der Tür unter der Treppe versuchen.
»Zweitens: Solange er mich beobachtet, kannst du dich zumindest umsehen und vielleicht dein Buch finden.«
Alissa nickte. »Und Nummer drei?«, fragte sie ungeduldig.
»Äh«, stammelte er und senkte den Blick. »Wenn er mich beobachtet, wird er wohl kein Auge auf dich werfen.«
Das war beinahe dasselbe wie der Grund, den er vorher genannt hatte, doch die Art, wie er es sagte, erregte ihre Aufmerksamkeit. »Wie bitte?«, fragte sie, und ein leises Lächeln spielte auf ihrem Gesicht. »Das habe ich nicht ganz verstanden.«
Strell stand auf. »Dein Feuer ist beinahe erloschen.« Er schnappte sich die Kerze und trat hinaus auf den Flur. »Ich bringe dein Bündel mit«, rief er ihr aus der Dunkelheit zu.
Ihr Lächeln wurde breiter, während sie zusah, wie der schwache Kerzenschein im Flur entschwand. Er wollte also nicht, dass Bailic ein Auge auf sie warf. Also wirklich, dachte sie. Bailic war fast so alt wie ihr Papa.
Das Feuer loderte fröhlich, als Strell mit ihren Bündeln zurückkam, und sobald sie einen Topf Teewasser aufgesetzt hatten, gingen sie hinaus, um die anderen Türen zu erkunden. »Waren denn alle verschlossen?«, fragte Alissa, die es beunruhigend fand, dass eine dieser Türen sich ihr von selbst geöffnet hatte.
»Alle, bei denen ich es versucht habe, ja«, sagte Strell und drehte den Knauf an der Tür neben ihrer. Nichts rührte sich, und mit einer übertriebenen Geste forderte er sie auf, es zu versuchen. Sie erwartete nicht, dass es ihr anders ergehen würde als ihm, und berührte vorsichtig die Tür. Ein Kribbeln kroch über ihre Fingerspitzen, und sie öffnete sich knarrend. Alissa schwankte zwischen Jubel und Schrecken und entschied schließlich, so zu tun, als sei gar nichts geschehen.
Neugierig schob sie den Kopf durch den Türspalt. Dieser Raum war beinahe das Spiegelbild ihres eigenen nebenan, natürlich ohne das Fenster nach Westen. Der Sessel sah
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