Alissa 1 - Die erste Wahrheit
ihrer Quelle abzuschneiden. Sogleich warf sie einen Blick auf das dunkle, stille Muster in ihren Gedanken. Obwohl seit Wochen keine Energie mehr hindurchgeflossen war, entdeckte sie, dass einige Pfade schwach glühten.
Alissa musste sich zusammennehmen, um nicht vernehmlich nach Luft zu schnappen, als sie erkannte, dass Bailic seine eigenen Pfade haben musste; und wenn er Energie hineingelenkt hatte, dann musste er gerade eben einen Bann gewirkt haben. Anscheinend hatte dies eine Resonanz erzeugt und einige ihrer eigenen Pfade aufleuchten lassen. Bei den Hunden!, dachte sie. Sie war tatsächlich eine Bewahrerin!
»Ich erwarte, dass Ihr Euch ruhig verhaltet, vor allem nach Sonnenuntergang«, sagte Bailic und versuchte, seinen Zorn mit einem steifen Lächeln zu überspielen. »Ich lebe seit einiger Zeit allein hier. Ich bin Stille gewohnt -«
»Selbstverständlich«, fiel Strell ihm ins Wort.
Bailics Lächeln zerfiel. »Und wie seid Ihr hier hereingekommen? Die Tür war verschlossen.«
»Seltsam – sie war offen, als ich über die Schwelle getreten bin«, erwiderte Strell mit großen Unschuldsaugen. »Sollten wir nicht hier sein? Dies ist der siebte Stock, nicht wahr?«
Alissas Freude verflog, und ihr wurde kalt, als Bailics Miene sich anspannte. Er schwieg einen Moment lang und musterte Strell von Alissas Hut bis hinab zu seinen braunen Stiefelspitzen. Strell balancierte auf Messers Schneide zwischen Dummheit und Unverschämtheit, und sie hatte das Gefühl, dass Bailic es merkte.
»Die Tür war offen?«, fragte er leise und zog die Augenbrauen hoch.
Strell nickte nachdenklich. Er schien nicht erpicht darauf zu sein, Bailic noch weiter zu reizen.
»Merkwürdig«, sagte der große Mann vom Flur aus. »Ich dachte, alle Türen hier seien verschlossen.« Er beugte sich vor, und Kralle begann zu fauchen. »Sagt mir, Ihr vom Glück begünstigter Geschichtenerzähler«, fuhr er fort, »habt Ihr noch mehr Türen geöffnet?«
»Ich hatte noch keine Gelegenheit dazu«, behauptete Strell, doch Alissa sah die Anspannung, die er vor Bailic zu verbergen suchte.
Bailic nickte, und sein Blick wurde nachdenklich. »Ihr dürft jedes der Gemächer im siebten Stock haben«, erklärte er glatt und ignorierte Kralles Lärm. »Ich habe soeben entschieden, dass ich morgen Abend mit der Geschichte unterhalten werden möchte, wie ihr beide auf meiner Türschwelle gelandet seid.«
»Ach«, protestierte Strell, »das ist eine langweilige Geschichte. Möchtet Ihr nicht lieber etwas von einem Riesenfisch hören, und von den Männern, die sich der wilden See gestellt haben, um ihn zu fangen?«
»Nein«, erwiderte Bailic. Er wandte sich um und lächelte Alissa zu, und obwohl er das sehr gut machte, konnte sie ein Schaudern nicht unterdrücken. Bailic bemerkte es und erstarrte. »Wir werden morgen Abend Eure Geschichte hören, Barde«, sagte Bailic gezwungen höflich, und mit einem abschätzigen Blick auf Kralle wirbelte er herum, so dass ihm der offene Mantel um die Knöchel flatterte.
Seine leisen Schritte entfernten sich den dunklen Flur hinunter, und Alissa erschauerte, als wolle sie den letzten Rest seiner Gegenwart abschütteln. Dem Navigator sei Dank, dass er nicht hier hereingekommen war. Doch immerhin wusste sie nun, dass sie tatsächlich eine Bewahrerin war. Bailic hatte einen Bann geschaffen, und sie hatte es gesehen.
Alissa stockte der Atem, als sie diesen Gedanken weiterspann. »Strell, versuchst du bitte zu pfeifen?«
»Meinst du nicht, dass wir schon genug Ärger bekommen haben?«, erwiderte er scharf.
»Es braucht nicht laut zu sein«, sagte sie. »Versuch es einfach.«
Strell kam ihrer Bitte nach und spitzte die Lippen. Wie sie erwartet hatte, drang kein Laut heraus. Vollkommen verwirrt runzelte er die Stirn und versuchte es erneut.
»Du kannst nicht pfeifen«, erklärte Alissa düster, doch dann hellte sich ihre Miene auf. »Ich habe es gesehen. Ich habe gesehen, wie er das gemacht hat!«
»Wie er was gemacht hat?«, fragte Strell und pustete immer kräftiger. »Und was soll das heißen, ich kann nicht pfeifen?«
»Wie er den Bann gewirkt hat, meine ich.«
Strells Augen weiteten sich. »Wie bitte? Du hast gesehen, wie er einen Bann gewirkt hat, der mich am Pfeifen hindert?«
Sie nickte und kniete sich vor den Kamin, um Feuer zu machen, doch dann fiel ihr ein, dass alle ihre Sachen in der Küche lagen. Ihr Blick glitt zum Kaminsims, wo ihre Mutter zu Hause das Zündzeug aufbewahrt hatte, für den Fall, dass das
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