Alissa 1 - Die erste Wahrheit
vor allem deshalb nicht konzentrieren konnte, weil er in Gedanken mit anderen, dringenderen Angelegenheiten befasst war.
Er blieb sitzen und sandte seine Gedanken nach innen und hinab durch die verlassenen Hallen und Flure der Feste auf der halbherzigen Suche nach dem letzten Objekt, das für ihn noch von Bedeutung war. Er wusste seit Jahren, dass die Erste Wahrheit in der Nähe war, und er hatte sich angewöhnt, zu dieser Stunde nach dem sirenenartigen Ruf des Buches zu lauschen. Die leere Zeit zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang, wenn der Geist der Menschen still war – das war stets die Zeit gewesen, da ihm diese Suche am leichtesten fiel. Eines Tages, dachte er verbittert, würde das Buch ihm gehören.
Er hatte früher zu den Bewahrern dieser Feste gehört und war sicher, dass er das Wissen darin würde nutzen können. Diese geliehene Weisheit würde ihm die Kraft verleihen, die Seelen von Ese’ Nawoer zu erwecken. Die verlassene Stadt war einst im Schatten der Feste gewachsen – die Händler und Einwohner der Stadt hatten den stetig wachsenden Bedarf der Feste gedeckt. Nun lag sie seit vierhundert Jahren verlassen dort unten, bewohnt von den Geistern, die durch die tragische Entscheidung eines einzelnen Mannes keine Ruhe fanden.
Mit Hilfe des Buches würde er ihre Unterstützung einfordern und jeglichen Widerstand gegen seine Pläne niederschlagen. Er würde wieder frei sein von der Feste, die ihm jetzt Zuflucht und Gefängnis zugleich war. Er würde sich alles nehmen, was er begehrte, und das, so musste er zugeben, würde wohl mehr sein, als die meisten ihm freiwillig geben würden. Doch vor allem würde er dann die erbärmlichen Bewohner des Tieflands und des Hochlands beherrschen. Bailic schnaubte verächtlich. Seiner Meinung nach genossen sie viel zu viel Freiheit.
Er sann in vertrauten gedanklichen Bahnen seinem Plan nach – zuallererst würde er einen Konflikt auslösen, der die beiden Kulturen ins Chaos stürzen würde. Mit Hilfe der Macht, die das Buch ihm verleihen würde, sollte das nicht allzu schwierig sein. Sie verabscheuten einander bereits jetzt. Offene Feindseligkeiten anzuzetteln müsste ein Leichtes sein. Er würde sich sicher im Hintergrund halten und beide Seiten so manipulieren, dass es niemals einen Sieger gab, nur eine ununterbrochene Reihe von Verlusten. Erst wenn er der Meinung war, dass sie einander nun ausreichend dezimiert hatten, würde er als der große Friedensstifter auftreten und sowohl die Staubfresser als auch die Siedler in den Hügeln seinem Willen beugen. »Ihr werdet mich freudig willkommen heißen«, flüsterte er, »und mein Loblied singen. Ich werde euch nach dem Bild formen, das mir genehm ist, und niemand wird auch nur daran denken, meine Entscheidungen in Frage zu stellen.« Er konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, doch es erlosch, als ein leiser Zweifel an seinen Gedanken nagte. Unwillkürlich wurde sein Blick zu dem hohen Wandbord gezogen, auf dem der breitkrempige Hut eines Bewahrers lag, alt und fleckig, wie eine stumme Anschuldigung.
»Hab ich nicht recht, Meson?«, fragte Bailic spöttisch und stieß den unwillkommenen Gedanken beiseite. Er erhob sich und trat an das Wandbord, um den Hut herunterzunehmen. Vergessene Notizen, die darunter verborgen gewesen waren, rieselten auf ihn herab. Bailic legte den Hut auf seinen Schreibtisch und bückte sich, um die Blätter aufzuheben. Ein weiteres Lächeln, diesmal sehr befriedigt, breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er sich ans Feuer setzte, um die Papiere zu sortieren. Die Blätter waren alt, beschrieben, als er damit begonnen hatte, selbst zu erforschen, wie er einen anderen Bewahrer mit verschiedenen Bannen verkrüppeln konnte – etwas, das ihre Meister ihnen eigentlich strengstens verboten hatten.
Der letzte Eintrag datierte beinahe vierzehn Jahre zurück. »Heute hat Meson die viel diskutierte Frage beantwortet, ob der Wahrheitsbann der Meister tödlich wirken könne, wenn man sich ihm widersetzt«, las Bailic. »Er ruht am Fuße des Turms.« Den Blick noch immer auf seine zittrige Handschrift auf dem Blatt gerichtet, legte Bailic es auf den Schreibtisch, griff zur Feder und fügte langsam und sorgfältig hinzu: »Meson war der letzte Bewahrer.«
Auf einmal spürte Bailic einen unerklärlichen Argwohn. Er legte seine Notizen beiseite und betrachtete erneut den gelben Hut. Er hatte jahrelang auf diesem Bord gelegen, unbemerkt und unbeachtet, bis seine »Gäste« eingetroffen waren. Er
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