Alissa 1 - Die erste Wahrheit
waren.
Bailic lächelte. Das erschien ihm passend. Er hatte Talo-Toecan hier hereingelockt und ihn eingeschlossen, indem er ihm erzählt hatte, seine geliebte Keribdis sei zurückgekehrt, läge verwundet hier unten und rufe nach ihm.
Außer dem schmalen Felsspalt, den er nun entlangschlurfte, gab es nur einen einzigen Weg nach draußen, und das war das Westtor. Es glich eher einem gewaltigen, vergitterten Fenster als einem Tor, denn es lag in der schroffen Felswand der westlichen Bergflanke. Es bereitete Bailic ein perverses Vergnügen, zu wissen, dass sein ehemaliger Lehrer die Freiheit sehen, sie aber nicht genießen konnte.
Bailic hörte Wasser tropfen, lange bevor der Tunnel endete. Heute Abend wurde das Tropfen von einem tiefen, warnenden Grollen begleitet. Das Licht seiner Fackel fiel auf einmal ins Nichts, und er richtete sich langsam und mit knirschendem Rücken auf. Im Ausgang des Tunnels blieb er stehen und spähte mit zusammengekniffenen Augen zu dem großen, unförmigen Umriss hinter den weit auseinanderstehenden, mächtigen Gitterstäben. Zwei gelbe Augen, jedes so groß wie sein ganzer Kopf, glitzerten im unsteten Licht. Offensichtlich hatte man mit seinem Besuch heute Abend gerechnet: Sein Dauergast wartete schon auf ihn. Der Fackelschein spiegelte sich kurz auf schimmernden Zähnen. Sie waren so lang wie Bailics Arm.
»Ihr wart recht still in letzter Zeit. Talo«, murmelte Bailic, der sich keinen Schritt vom Tunnelausgang fortbewegte. »Wäre es möglich«, höhnte er, »dass Ihr Euch in Eurer Unterkunft allmählich doch wohlfühlt? Habt Ihr vielleicht Geschmack an Ratten gefunden?«
Er erhielt keine Antwort, abgesehen von dem Grollen und dem steten Tropfen von Wasser, das in der Ferne widerhallte. Am Rand des Fackelscheins schwankte eine stumpfe Schwanzspitze hin und her.
»Nun habt Euch nicht so«, lockte Bailic herablassend. »Ich möchte Euch den Abend mit ein wenig freundlicher Konversation versüßen. Arrangiert Euch doch bitte so, dass Ihr mit mir sprechen könnt.« Er trat näher und vertraute darauf, dass die dicken Gitterstäbe, durchdrungen von uralter Kraft, ihn schützen würden. Die einzelnen Streben standen so weit auseinander, dass er leicht zwischen ihnen hindurchschlüpfen könnte, und obgleich bloßes Metall seinen Gefangenen nicht zurückhalten konnte, vermochten die Banne, die zu den Gitterstäben gehörten, dies sehr wohl. Das Gitter war ein Tor, das sich nur in eine Richtung öffnete, ganz ähnlich wie der Bann an seiner eigenen Zimmertür.
Ein grauer Schimmer wirbelte hinter dem Gitter auf. Die riesigen Augen verschwanden, der gewaltige Schatten schrumpfte zusammen. »Gib nur ja gut acht, Bailic«, ertönte eine knirschende Stimme anstelle des warnenden Knurrens. »Wenn du noch näher kommst, stelle ich die Kraft der Feste auf die Probe, ganz gleich, wie weh es tut.«
»Optimistische Worte, findet Ihr nicht?«, erwiderte Bailic höhnisch lächelnd. »Vor allem für jemanden, der seit – wie lange ist das jetzt her? – anderthalb Jahrzehnten nicht mehr unter freiem Himmel war.«
»Fünfzehn Sommer und vierzehn Winter«, sagte die gefährliche Stimme sehnsüchtig, und die Gestalt eines Mannes erschien im Licht. Die Fackel erhellte jedoch nicht seine Gesichtszüge, die im Dunkeln blieben. Aber es war gut zu erkennen, wie schmal und mager er war und dass es eigentlich ein Leichtes für ihn sein müsste, durch das Gitter in die Freiheit zu schlüpfen. Die schattenhafte Gestalt holte Luft und stürzte los, als wollte sie genau das tun. Kurz vor dem Gitter hielt sie inne, als wisse sie ganz genau, wie nah sie ihm kommen durfte.
Bailic wich hastig zurück und prallte so heftig gegen die Höhlenwand, dass ihm die Luft aus der Lunge gepresst wurde. Die Fackel fiel ihm aus der Hand und flackerte auf dem Steinboden.
»Ich verfluche Euch!«, keuchte er, krümmte sich und schnappte nach Luft. Sein Herz hämmerte, der kalte Schweiß brach ihm aus, und er verabscheute sich selbst für diese Reaktion. Er wusste, dass er relativ sicher war. Talo-Toecan konnte durch das Gitter hindurch keinen Bann wirken.
Einen Meister machtlos zu machen war nahezu unmöglich, doch die Banne auf dem Gitter vermochten es beinahe. Solange Talo-Toecan sich in Gefangenschaft befand, waren die Feste, die verlassene Stadt Ese’ Nawoer und alles dazwischen für ihn durch Zauber unberührbar. Damit sollte der Gefahr begegnet werden, dass der gefangene Meister in die Gedanken anderer eindrang und deren
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