Alissa 1 - Die erste Wahrheit
Bailic hatte nichts dazu gesagt, als eines Abends eine Schüssel Erdbeeren auf dem Tisch gestanden hatte. Nun gab es zu jeder Mahlzeit frisches Gemüse und Obst.
Alissa fand die beiden letzten Tunnel, Kurzwaren und Gebrauchtlager, am interessantesten. »Kurzwaren?«, schlug sie vor und dachte dabei an die Stapel von Leder und Leinen. Sie hielt es für Zeitverschwendung, die Keller zu durchsuchen, aber vielleicht würde sie doch etwas finden, das sie brauchen konnte. Strell hatte recht. Ihre Socken waren schon so oft gestopft worden, dass sie kaum noch zu gebrauchen waren.
»Kurzwaren klingt gut«, sagte Strell und trat durch den ersten offenen Durchlass.
Kralle schimpfte von Alissas Schulter herab, als sie unter den Bogen trat. Der Gang führte leicht bergab, der Boden war von vielen Füßen glatt geschliffen, und sie hielten inne, damit ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten. Alissa war froh über die Kerzen und ihren warmen Glanz, der von der niedrigen Gewölbedecke zurückgeworfen wurde. Sie kniff die Augen zusammen, als der Luftzug ihr das Haar ins Gesicht blies. Es war sehr lang geworden, reichte ihr schon fast bis auf die Schultern und musste geschnitten werden, denn es ging ihr auf die Nerven.
Ein schwacher Lichtschein am Ende lockte sie voran, und bald traten sie ins Sonnenlicht. Nebeneinander standen sie am Eingang des unterirdischen Lagerraums und ließen die Blicke schweifen. Vor ihnen erstreckte sich ein schmaler, hoher Raum, erhellt von dünnen Fensterschlitzen in der fernen, gemauerten Decke. Der Raum besaß vier Stockwerke, die sich zu breiten Galerien über einem zentralen, engen Arbeitsbereich im Erdgeschoss öffneten.
Ansonsten war das Erdgeschoss ganz dem Papier gewidmet und allem, was man zu seiner Herstellung benötigte. Es gab Körbe mit Tintenfässchen, Pinsel, Federn und Fässer voller Zellstoff in verschiedenen Stadien der Verarbeitung. An der Wand standen mehrere hohe Schränke, in denen Stapel des kostbaren Papiers sicher vor der Sonne aufbewahrt wurden. Der Bann, der die Feste staubfrei hielt, war auch hier am Werk.
Die drei anderen Stockwerke waren in niedrige Alkoven voller Leder und Stoffe eingeteilt. Am höchsten Punkt hing ein riesiger Flaschenzug, der vermutlich Bündel heben sollte, die zu groß oder zu unhandlich waren, um sie über die Treppe hinaufzutransportieren, die sich an einer Wand emporschraubte.
Alissa griff nach Strells Kerze und blies sie aus, ebenso ihre eigene. Kralle verließ ihre Schulter, als sie sich hinkniete, um die Kerzen im Eingang abzulegen. Der kleine Vogel flog auf die höchste Galerie und ließ seine scharfen Schreie vom gewölbten Dach widerhallen. Langsam folgte Alissa Strell, der die paar Stufen zum Erdgeschoss hinabstieg. Die Sonne strömte herein und wärmte den Lagerraum ein wenig, doch Alissa erschauerte. Es war kühl hier, als fehlten die Fensterbanne.
»Hier gibt es genug Waren für drei Märkte«, rief Strell, der bereits die Stufen zum nächsten Stockwerk hinaufrannte.
»Hm«, brummte sie niedergeschlagen. Irgendwoher wusste sie, dass das Buch ihres Papas sich nicht bei den Kurzwaren befand. Doch wenn Strell darauf bestand, hier alles zu durchsuchen, würden sie den ganzen Winter damit beschäftigt sein. Alissa folgte ihm die Treppe hinauf. Bei ihrem ersten Besuch hier war es dunkel gewesen, und sie wollte sich das Leder, das sie entdeckt hatte, noch einmal näher ansehen. Sie brauchte den Winter ja nicht völlig zu vergeuden. Sie konnte die Zeit nutzen, um neue Kleider anzufertigen. Außerdem, so sagte sie sich, war das ohnehin dringend nötig. Ihre Sachen waren nicht für die Belastungen geschaffen, die sie ihnen zugemutet hatte, und inzwischen geradezu fadenscheinig. Neben Bailic in seinen exquisit geschneiderten Roben kam sie sich allmählich wie eine Bettlerin vor.
Sie schnupperte nach dem warmen Duft von Leder und folgte ihrer Nase, vorbei an Ballen von Leinen und Wolle, bis sie es gefunden hatte. Ihre Hand fuhr wie von selbst zu ihrer Lieblingsfarbe, einem satten Cremeton, und sie seufzte leise. Das Leder war so weich wie eine Pfütze von der Sonne gewärmten Wassers. Sehr wenig gutes Leder gelangte je so tief ins Vorgebirge, dass es bis zum Hof ihrer Eltern vordrang. Die Stiefel ihrer Mutter waren die einzige Ausnahme, doch in ihrem neuen, trübseligen Braunton hatten sie viel von ihrer Schönheit verloren.
»Hast du jemals so viel gutes Leder gesehen?«, bemerkte sie ehrfürchtig, als Strell zu ihr trat.
»Auf dem
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