Alissa 1 - Die erste Wahrheit
gleich alles ab.
Sie errötete und drehte sich verlegen zur Seite. »Wir sollten Bailic rasch sein Mittagessen bringen«, sagte sie, froh, das Thema wechseln zu können. »Bevor er am Ende danach suchen kommt.«
Strell brummte zustimmend, und sie gingen hintereinander die Treppe hinab. Alissa wollte sich von der Verwirrung ablenken, in die Strells letzte Worte sie gestürzt hatten, und dachte stattdessen an ihren neuen Stoff. Sie konnte es nicht erwarten, mit dem Nähen zu beginnen. Sie schürzte die Lippen und überlegte sich, wie sie es anstellen sollte, Bailics Essen zuzubereiten und trotzdem noch genug Tageslicht zu haben, um all diesen schönen Stoff zu verplanen.
»Ich mache dir einen Vorschlag«, sagte Strell, als sie das Erdgeschoss erreichten und er neben sie trat. »Wie wäre es, wenn ich heute Bailics Tablett vorbereite? Das macht mir nichts aus. Dann könntest du gleich anfangen.«
Alissa lächelte verlegen. »Ist es so offensichtlich?«
Sein Blick wurde weich. »Ich hatte vier Schwestern, Alissa. Du bist nicht viel anders als sie.«
»Danke, Strell«, sagte sie, auf einmal ungewöhnlich schüchtern. »Kralle?«, rief sie, um davon abzulenken. »Nun komm schon, du alberner Vogel. Du kannst oben in der Küche Mäuse fangen.« Ihr Vogel flog eine so tiefe Kurve, dass er mit einer Flügelspitze Alissas Haar streifte, und sauste vor ihnen in den Gang.
»Bevor du irgendetwas zerschneidest, lass mich bitte erst Bailic fragen, ob wir ihm vielleicht etwas anbieten können, im Tausch für deine – Einkäufe«, sagte Strell, als sie den dunklen Tunnel betraten.
Alissa riss erschrocken die Augen auf. »Oh, daran habe ich gar nicht gedacht. Vielleicht sollte ich die Sachen lieber zurücklegen.«
Strell schüttelte den Kopf, obwohl sie das im schwachen Lichtschein, der von der großen Halle vor ihnen hereinfiel, kaum sehen konnte. »Lass mich ihn nur fragen. Es gibt bestimmt irgendetwas, das wir dafür erledigen oder eintauschen können.«
»Ganz gleich, was es kostet«, sagte Alissa inbrünstig. »Ich muss etwas von diesem Stoff haben.«
Strell lächelte verständnisvoll. »Kannst du irgendein besonderes Gericht zubereiten? Etwas Süßes vielleicht?«
Ein Lächeln breitete sich auf Alissas Gesicht aus. Männer waren eben Männer. »Wie wäre es mit kandierten Äpfeln?«, fragte sie und erinnerte sich daran, wie ihr Papa sich stets in der Küche herumgetrieben hatte, wenn ihre Mutter sich die Zeit nahm und die Mühe machte, kandierte Äpfel zuzubereiten. Man brauchte drei Tage dafür.
Strell wäre beinahe gestolpert, so hastig drehte er sich zu ihr um. »Du weißt, wie man kandierte Äpfel macht?« Er zögerte. »Meinst du, du könntest gleich eine doppelte Portion zubereiten?«
»Das kommt ganz darauf an«, sagte sie und erlebte zum ersten Mal seit langer Zeit, wie befriedigend es war, die Oberhand zu haben. »Was gibst du mir dafür?«
– 24 –
D ie helle Nachmittagssonne beschien die Ländereien der Feste, deren Schneedecke das Licht gleißend reflektierte. Ein schmaler Strahl fand trotz allem den Weg in Bailics Gemach, der brütend in seinem Sessel vor dem eingestürzten Balkon saß. Fast zwei Wochen waren vergangen, seit er sich verbrannt hatte. Wenn er versuchte, seine mit Asche verstopften Pfade zu benutzen, bekam er weiterhin Kopfschmerzen, und schlimmer noch, er hatte noch immer nicht herausgefunden, wer von seinen »Gästen« der potenzielle Bewahrer war. Es war sehr ärgerlich, dachte Bailic und legte Buch und Feder beiseite. Er war schließlich gerissener als die beiden zusammen.
Bald würde der Tiefländer leise an seine Tür klopfen und das Tablett draußen hinterlassen. Dieses Ritual hatte kurz nach ihrer Ankunft begonnen und würde sich wohl nicht mehr ändern. Bailic erhob sich, um über die kahlen schwarzen Wälder zwischen sich und der verfluchten Stadt Ese’ Nawoer hinauszublicken. Die Sonne war grell, und er sah nur verschwommene Flecken von Braun, Weiß und Blau. Seine Augen brannten und begannen zu tränen, und er verfluchte sich selbst und wich in den Schatten zurück.
Hier war der Fensterbann besonders dünn, denn er war nicht dazu geschaffen worden, die größere Öffnung zu bedecken, die Meson in die Wand gesprengt hatte. Bailic spürte einen leichten Luftzug. Seltsam, dachte er. Der Zug hatte ihn noch nie gestört. Er gewöhnte sich wohl an die Behaglichkeit, der er in letzter Zeit gefrönt hatte. Sanft rieb Bailic über den Schnitt an seiner Wange, noch immer
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