Alissa 1 - Die erste Wahrheit
»Ich will rasch nachsehen, ob ich die Karte finde, auf der das Tiefland verzeichnet ist.«
Strell stand steif und ein wenig unbehaglich in Remas Küche herum, während sie unter den ledernen Häuten nach der richtigen suchte. Es war offensichtlich, dass sie sich danach sehnte, ins Tiefland zurückzukehren. Darüber, weshalb sie das nicht tat, wollte er lieber nicht nachdenken.
»Äh, hier ist sie.«
Strell trat näher und blickte auf die Stelle, wo ein schlanker Finger auf ein Kreuz zeigte; daneben stand das Wort »Zuhause«. »Hier sind wir«, sagte sie. »Und Hirdun liegt, glaube ich, hier.« Rema zeigte auf eine andere Stelle. Sie beugte sich dichter darüber, um die hellen Markierungen der gebräuchlichen Wege besser sehen zu können. »Das ist nicht allzu weit«, sagte sie aufgesetzt fröhlich. »Liegt Euer Zuhause in der Nähe?«
Wieder einmal bestaunte Strell die unglaublich feinen Einzelheiten. Sogar der Fluss, der die Schlucht seiner Familie gegraben hatte, war verzeichnet. »Na ja«, sagte er und grinste ein wenig verlegen, »wie man’s nimmt. Um ehrlich zu sein, ich bin ein Hirdun. Wir wohnen alle dort.« Er beugte sich dichter über die Karte, um die Entfernung einzuschätzen, und hielt wegen des scharfen Geruchs der Tinte den Atem an. »Nur ein paar Wochen«, stellte er erfreut fest.
Rema war still geworden. Langsam sammelte sie die Häute ein bis auf jene, die er noch betrachtete, und legte sie beiseite. »Ihr sagt, Eure gesamte Familie hat dort gewohnt?«, fragte sie langsam.
Strell fiel auf, dass sie in der Vergangenheit sprach. Er blickte auf, und als er das Mitleid in ihren Augen sah, schnürte Panik ihm die Brust zusammen. »Wie meint Ihr das, hat dort gewohnt?«
»Ach, Strell.« Rema ergriff seine Hände und führte ihn zu einem Schemel. »Ich bedaure sehr, dass ich es sein muss, die Euch das sagt. Vor fünf Jahren fiel der Frühjahrsregen mit der Schneeschmelze zusammen. Es gab eine völlig unerwartete Flut. Die Siedlung der Hirdun wurde vollständig zerstört. Niemand ist mehr aus der Schlucht herausgekommen.«
– 4 –
S ie war wohl mondsüchtig, dachte Strell, während er den Berg hinab auf das Tal zutrottete. Nicht recht bei Trost. Die Vorstellung, seine Familie sei nicht mehr am Leben und er wisse gar nichts davon, war schlicht absurd.
Strell drehte sich um und winkte der armen Frau noch einmal zu, bevor er unter die Bäume trat. Er hätte erkennen müssen, dass sie wahnsinnig war, sobald er sie hier entdeckt hatte. Eine Tiefländerin musste verrückt sein, wenn sie hier unter Bauern lebte. Er hätte darauf gewettet, dass er heute Abend ein paar aufregende Geschichten über die verrückte Tiefländerin hören würde, die auf dem Hügel wohnte. Strell lächelte schwach. Er hatte das ja geradezu herausgefordert, indem er ausgeplaudert hatte, dass er ein Hirdun war. Seine Familie war berühmt für ihre Töpferwaren, und über allseits bekannte Leute wurde immer getratscht. Vielleicht hatte sie ihm nur eins auswischen wollen, weil er sich mit einem solchen Namen schmückte. Die erste Woge von Panik, die ihre Worte ausgelöst hatten, war rasch verebbt, und nun war er höchstens ärgerlich.
Dennoch, überlegte er und hielt an, um eine Brombeerranke von seinem Ärmel zu zupfen, hatte ihr Blick aufrichtig bekümmert gewirkt. Sie hatte gesagt, sie wisse, wie es sich anfühlte, seine gesamte Welt zu verlieren, und als er sie beim Abschied so allein auf dem kleinen Hof hatte stehen sehen, war ihm das nur allzu wahr erschienen.
Seiner Familie ging es gut, entschied er und bahnte sich weiter einen Weg durchs lockere Unterholz. Er würde es doch wissen, wenn dem nicht so wäre. Er müsste es wissen. Wie konnten sie fort sein, ohne dass er davon wusste?
Bald fand Strell den holprigen Pfad, der abwärts und gen Osten führte. Remas Verstand mochte verwirrt sein, doch ihre Wegbeschreibung war richtig. Nun, da er sich wieder auf einem viel bereisten Weg befand, fühlte er sich gleich zuversichtlicher und schritt forsch aus, begierig, vor Sonnenuntergang das Dorf zu erreichen. Er hatte seit über einem Monat keinen richtigen Weg mehr gesehen. Doch selbst ohne diesen Pfad hätte er gewusst, dass er die richtige Richtung eingeschlagen hatte. Der Rauch am Himmel war besser als jedes Schild geeignet, ihm den Weg zu zeigen.
Strell traf auf einen stillen Bauernhof und ging rasch mit gesenktem Kopf daran vorbei, nur für den Fall, dass das Anwesen doch nicht so verlassen sein sollte, wie es
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