Alissa 1 - Die erste Wahrheit
Händler stets ignorierte. Dann verschwand der sehnsüchtige Ausdruck aus ihren Augen. »Oh«, wiederholte sie, diesmal mit falschem Bedauern in der Stimme. »Ich sehe, was Ihr meint. So dünn gewebt. Der Fadenlauf ist nicht ebenmäßig. Und die Farben sind verblasst.« Sie streckte halb die Hand aus und konnte den Drang, den seidigen Stoff durch die Finger gleiten zu lassen, kaum verbergen.
Strell zupfte die Seide sorgfältig zurecht und arrangierte die Falten so, dass die feine, feste Webart zur Geltung kam. Wellen von Licht schillerten auf dem Tisch, als die Kämme der Falten ins Sonnenlicht glitten. Rema beherrschte sich wirklich gut: Sie verschränkte die Hände hinter dem Rücken und rührte den Stoff nicht an. Das zeigte einen starken Willen und wies sie als erfahrene Spielerin aus. Schweigend wartete er ab. Er hatte den Handel eröffnet, so nebulös seine Einleitung auch gewesen sein mochte; nun war es an ihr, das Thema offen anzusprechen.
»Eine Mutter weiß auch das einfachste Geschenk zu schätzen«, sagte sie leise, »wenn es von Herzen kommt.« Sie lächelte, und etwas in ihrem Blick wirkte ein wenig verloren. »Doch dieses Stück würde für ein Tuch genügen, wie Ihr schon sagtet. Und das Grün, wenngleich so verblasst, wird ihr gewiss gut stehen.« Rema zögerte, und Strell wartete. »Mir würde ein solches Grün auch gefallen. Wenn es nur dichter gewebt wäre und es mehr davon gäbe als das kleine Stück, das Ihr hier habt. Dennoch – wärt Ihr bereit, es mir zu verkaufen?«
Strell grinste. So viel Gefühl zu zeigen ging weit über die Spielregeln hinaus, doch das schien jetzt keine Rolle mehr zu spielen. »Diesen schäbigen Fetzen?«, sagte er und riss den Stoff an sich, so dass die Karten darunter wieder zum Vorschein kamen. »Unmöglich. Der Rat würde mich an den Pfahl stellen, weil ich Euch um Eure gute Ware betrogen habe.« Er zögerte. »Außer vielleicht, Ihr hättet etwas ähnlich Schäbiges und Wertloses?«
Rema nickte langsam, den Blick auf den Stoff geheftet. »Wie Ihr schon sagtet, ist die Karte meines Mannes nicht sehr ansehnlich und fleckig obendrein. Ich würde meinen, sie taugt gerade noch als Windel. Ich kann sie nicht brauchen. Würdet Ihr sie in Betracht ziehen?«
»Einen Lumpen für einen Lumpen«, sagte Strell gedehnt und blickte scheinbar beiläufig zur Decke auf. »Ich denke, für einen so wertlosen Handel hätte der Rat höchstens ein Lächeln übrig. Abgemacht und abgemacht, wenn Ihr einverstanden seid?«
»Abgemacht und abgemacht«, wiederholte Rema. Erst jetzt berührte sie die Seide, nahm ihm den Stoff aus der Hand und schmiegte ihn an ihre Wange. Sie lächelte und sah gleich zehn Jahre jünger aus. Das Spiel war vorbei. »Der Stoff ist wunderhübsch. Weben sie denn so etwas an der Küste?«
»An der Küste machen sie alles«, erklärte er. »Die meisten sind Fischer, doch die Handwerker und Bauern leben Haus an Haus.« Strell zuckte mit den Schultern. »Wie im Garten des Navigators.«
Rema schien seine Worte kaum zu hören. »Ich hätte nie gedacht, dass ich noch einmal etwas so Herrliches besitzen würde. Ich danke Euch, Strell.«
Ihre große Freude über den Stoff machte Strell verlegen, deshalb griff er nach seiner neuen Karte. Er konnte nicht anders, als sie noch einmal aufzurollen und einen letzten Blick darauf zu werfen, bevor er sie einpackte.
»Hier«, sagte Rema und griff nach dem Band, mit dem sie ihr
Haar zurückgebunden hatte. »Ich habe eindeutig das bessere Geschäft gemacht. Ich möchte noch etwas drauflegen.«
Strells Augen weiteten sich, als sie die Karte aus seinen schlaffen Fingern nahm, zusammenrollte und mit ihrem Haarband verschnürte. Ein solches Band, als Geschenk von einer Dame, galt im Tiefland als Zeichen großer Zuneigung.
»Es ist so lange her«, erklärte sie errötend. »Diese Bauern wissen nicht, wie man feilscht, und nichts wirklich Schönes gelangt je so tief ins Vorgebirge. Ich schulde Euch auch ein Essen. Bitte bleibt und erzählt mir, was es im Tiefland Neues gibt.«
»Meine Neuigkeiten«, erwiderte er lachend, »sind sechs Jahre alt. Ihr wisst wahrscheinlich mehr darüber, wer wen geheiratet hat, als ich Euch sagen könnte.« Strell wandte ihr halb den Rücken zu, packte die Karte in sein Bündel und bedauerte doch ein wenig, dass er es so eilig hatte, nach Hause zu kommen.
Rema richtete sich auf. »Das ist wohl wahr«, sagte sie mit einem Hauch Enttäuschung in der Stimme und drapierte ihre Seide auf einem Stuhl.
Weitere Kostenlose Bücher