Alissa 1 - Die erste Wahrheit
knirschen und das Bersten von Geschirr. »Einen Augenblick!«, erscholl Bailics gedämpfter Ruf, und dann öffnete sich die Tür. »Guten Abend«, sagte er und blickte mit entzündeten, rot geränderten Augen auf sie hinab. Er hielt eine grün verfärbte Schüssel in der Hand, die stark nach Minze roch, und Alissa hatte ihn offenkundig bei irgendetwas gestört.
»Bailic«, sagte sie. Ruhig und gefasst erwiderte sie seinen finsteren Blick. Sie hatte die Herrin des Todes gesehen, hatte in ihrer tückischen Umarmung geruht und ihr dennoch entkommen können. Ihre Tage waren recht erträglich, aber die Nächte brachten Erinnerungen an ihre selbst verschuldeten Qualen. Etwas Schlimmeres konnte Bailic ihr gar nicht antun.
»Möchtet Ihr hereinkommen?« Bailic lächelte plötzlich und trat zurück.
Neugier und das Bedürfnis, der Stelle näher zu sein, an der ihr Papa einst gestanden hatte, verleiteten sie dazu, durch die offene Tür zu spähen. Der Gestank war grauenhaft. Alissa lehnte sich ein wenig vor und konnte nun die Quelle des üblen Geruchs in einer Metallschüssel blubbern sehen, umgeben von Kerzen. Ein angeschlagener gelber Topf schaukelte leicht auf dem Fußboden.
»Ihr erweist mir so selten die Ehre, sacht an meine Tür zu klopfen«, fuhr er fort und betrachtete die neue kleine Delle in seiner Tür mit hochgezogenen Augenbrauen. »Gewiss habt Ihr einen Grund dafür?«
»Eigentlich nicht«, entgegnete Alissa. »Ich war neugierig.«
»Neugierig!« Er trat rückwärts mit dem Fuß aus und stieß die goldene Schüssel außer Sichtweite unter den Tisch. Dann trat er an seine Werkbank und kippte den Inhalt der mit grünen Flecken verunzierten Schale in das schäumende Gebräu. Sogleich ließ der Gestank nach, übertüncht von einer Wolke Pfefferminzduft. »Schön, kommt herein, zumindest für einen Augenblick.«
Alissa erinnerte sich an den Bann auf seiner Schwelle und zögerte. Sie würde das Zimmer nicht wieder verlassen können, außer er erlaubte es ihr. Dann zuckte sie mit den Schultern. Wenn sie das Schicksal herausforderte, spürte sie zumindest, dass sie noch am Leben war. Außerdem wurde das Tablett allmählich schwer.
Als hätte er ihre Gedanken gelesen, nahm Bailic ihr galant das Tablett ab und zog sie dabei halb über die Schwelle. Sie bildete sich ein, das Kribbeln des Bannes zu spüren, als sie ins Zimmer stolperte. Unmöglich, dachte Alissa. Sie hatte wochenlang gar nichts gespürt. Ihre Pfade waren Asche. Stirnrunzelnd ermahnte sie sich, dass ein Bann, nur weil sie ihn nicht mehr wahrnahm, sie trotzdem verbrennen konnte, und Schmerz war immer noch Schmerz, ganz gleich, wie sinnlos ihr das Leben nun erschien. Alissas Blick glitt zum Balkon, genauso zertrümmert, wie sie ihn in der Erinnerung ihres Papas gesehen hatte, und sie seufzte.
»Eine beeindruckende Aussicht, nicht wahr?« Bailic, der ihr Seufzen offenbar missverstanden hatte, trat bis an die Kante der senkrecht abfallenden Mauer und starrte in die Nacht. »Ich habe gehört, wenn die Sonne hoch am Himmel steht und der Tag klar ist, könne man von hier aus Ese’ Nawoer sehen.« Er verzog das Gesicht. »Mein Augenlicht scheint von Jahr zu Jahr schwächer zu werden. In dieser Finsternis kann ich nicht einmal mehr den Fußboden sehen.«
Plötzlich drehte er sich um, und Alissa erstarrte. »Mir ist aufgefallen, dass Ihr sehr geschickt mit Nadel und Faden seid«, bemerkte er leichthin. »Und Ihr habt ein gutes Auge für Stoffe. Wusstet Ihr, dass ich einst bei einem Meisterweber in die Lehre ging? Caldera-Tuch hat meine Familie hergestellt, in den prächtigsten Rottönen. Der Stoff war zu edel, als dass man im Hochland damit gehandelt hätte, doch es liegen noch ein oder zwei Ballen bei den Kurzwaren. Ich hätte den Namen meiner Familie in die Zukunft tragen können, wenn man mich nicht verjagt hätte.« Er blickte wieder hinaus in die Dunkelheit, und seine Miene wurde starr. »Heute könnte ich so etwas nicht mehr herstellen. Ich habe zu lange nicht mehr am Webrahmen gesessen. Man braucht eine ruhige Hand und ein scharfes Auge, um den Fadenlauf gerade zu halten und das Muster genau zu treffen.«
Alissas Blick huschte von ihm zur offenen Tür, und sie überlegte, ob sie versuchen sollte zu gehen.
»Sagt mir«, bat er leise, »wie sieht die Nacht dort draußen aus?«
Mit einem letzten sehnsüchtigen Blick zur Tür trat Alissa einen Schritt näher an ihn heran und schaute über den Balkon hinaus in den späten Abend. Mondlicht schimmerte auf
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