Alissa 1 - Die erste Wahrheit
zur Küche hinauf. Heute war es angenehm, sogar in den Kellern. Am Morgen hatte sich die feuchte Luft von der Küste über die ersten Berge vorgeschoben und sie höhnisch mit einer Andeutung von Hitze geneckt. Morgen würde es vielleicht wieder klirrend kalt sein, aber heute war es ungewöhnlich mild. Alissa hätte ihre Schläfrigkeit gern auf diese plötzliche Wärme geschoben, doch sie schlief schon seit drei Wochen ständig ein, ohne es zu wollen.
Kribbelnde Vorfreude breitete sich in ihr aus, als sie sich auf den Weg zur großen Halle machte. Heute Abend kochte Strell nach ihrem Wunsch. Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er sich wegen seines böse verstauchten Knöchels kaum hatte bewegen können. Nun, da er sich wieder nützlich machen konnte, wollte er sie für die viele zusätzliche Arbeit entschädigen. Und so hatte Alissa für heute Abend eine herzliche Einladung zum Festmahl mit dem Spielmann ihrer Wahl erhalten. Doch zuerst war Bailics Tablett an der Reihe. Er nahm jetzt alle Mahlzeiten in seinen Gemächern ein. Als sie Strell gefragt hatte, warum, hatte der nur gemurmelt, Bailic wolle seine Geschichten nicht mehr hören. Alissa war es gleich. Bailic das Tablett hinauftragen zu müssen war ein geringer Preis dafür, dass sie Strell nun ganz für sich hatte.
Strell beugte sich umständlich über das Feuer, als sie die Küche betrat. »Schau nicht hin!«, schrie er und versperrte ihr hastig die Sicht. »Das Tablett steht an der Tür.«
Alissa reckte die Nase in die Luft, um einen Hinweis darauf zu erschnuppern, was auf den Tisch kommen würde. In der Küche roch es nach nichts. Nach gar nichts. »Ist Kralle hier?«, fragte sie.
»Nein. Geh weg! Ich bin noch nicht fertig.«
Alissa rümpfte die Nase, nahm das Tablett und ging. Bailics Teller war zugedeckt, damit das Abendmahl ein spannendes Geheimnis blieb. Sie war versucht, trotzdem nachzusehen, tat es dann aber nicht, weil sie Strell seine Überraschung lassen wollte, die ihm offensichtlich so viel bedeutete.
Alissa stieg die dämmrige Treppe zu Bailics Tür ohne eine Kerze hinauf. Nachdem sie diesen Weg wochenlang zurückgelegt hatte, war er ihr so vertraut wie die Pfade auf dem Hof ihrer Mutter. Sie ging absichtlich langsam, hatte es aber erst bis in den vierten Stock geschafft, als sie ernstlich zu keuchen begann. Sie war immer noch so rasch erschöpft, doch es ging schon viel besser als letzte Woche – da hatte sie nach jedem dritten Stockwerk eine Pause einlegen müssen. Trotzdem, im siebten Stock musste sie doch haltmachen. Sie stellte Bailics Tablett auf das breite Fensterbrett im Flur, achtete darauf, dem Fensterbann nicht zu nahe zu kommen, und setzte sich neben das Tablett. Sie erblickte sich in dem ovalen Spiegel an der gegenüberliegenden Wand.
»Viel besser«, gratulierte sie sich selbst und nickte ihrem Spiegelbild zu, das im spärlichen Licht ein wenig verschwamm. Da sie den Verlust ihrer Pfade betrauerte und Strell sich fast den Knöchel gebrochen hatte, waren die vergangenen drei Wochen nicht leicht gewesen. Sie hatte an Gewicht verloren, was sie sich eigentlich nicht leisten konnte. Nun nahm sie wieder zu und sah nicht mehr ganz so ausgemergelt aus. Sie trug auch ein neues Kleid. Nur dem Anlass zu Ehren, nicht für Strell.
»Aber sieh dir nur dein Haar an«, sagte sie bestürzt und stand auf, um näher an den Spiegel heranzutreten. Alissa schüttelte den Kopf und löste das grüne Band. Das Haar fiel ihr schon bis auf die Schultern, da Strell sich strikt weigerte, es zu schneiden. Ihre Mutter hätte sich gefreut, denn sie war der Meinung, dass eine richtige Dame Haar hatte, auf dem sie sitzen konnte. Ihrem Papa hingegen hätte es gar nicht gefallen. Strell, so hatte sie leider festgestellt, ließ sich weder durch Schmeicheleien noch durch Bestechung oder harte Worte dazu bewegen, es für sie zu schneiden.
Nach der kurzen Pause fühlte Alissa sich besser. Sie kehrte zu Bailics Tablett zurück und stieg müde die letzten Stufen hinauf. Als sie sich dem obersten Treppenabsatz näherte, drang ein gedämpfter Fluch, gefolgt von einem üblen Geruch und einem schimmernden, perlweißen Nebel, unter Bailics Tür hervor. Sie wich dem kalten Nebel aus und beobachtete, wie er sacht die Treppe hinuntertrieb. Sie hätte das Tablett an der Tür abstellen können, doch diese Situation war etwas völlig Neues, also schlug sie den Rat ihrer Mutter über Katzen und ihre fatalen Neigungen in den Wind und trat gegen die Tür.
Sie hörte Holz
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