Alissa 1 - Die erste Wahrheit
Kellern viele schöne Dinge gefunden, doch nichts, was ihm passend erschien. Außerdem konnte er nichts aus den Lagern so einfach verschenken, denn die Sachen gehörten ihm nicht.
»Genau«, hauchte er, wischte sich den letzten Rest Asche von den Fingern und hob sanft Alissas Kopf, um langsam ihr volles, langes Haar dahinter hervorzuziehen.
Sie murmelte etwas, und Strell erstarrte. Sein Geschenk sollte eine Überraschung werden, und er konnte sie wohl kaum einfach so um eine Locke von ihrem Haar bitten. Er musste sie schon stehlen.
Ungeduldig wartete er ab, bis ihr Atem sich wieder verlangsamte. Dann wählte er ein paar seidige Strähnen in ihrem Nacken aus, wo sie sie nicht vermissen würde. Er musterte sie kritisch und runzelte die Brauen. Ihr Haar war eigentlich immer noch furchtbar kurz. Selbst die niederste Bettlerin hatte in der Tiefebene genug Status, um das Haar länger zu tragen. Doch es war glatt und seidig. Schöner als das, womit er für gewöhnlich arbeitete.
Er hielt das dünne Büschel Haare weiterhin fest und griff nach seinem Messer, doch seine Hand tastete vergeblich an seinem Unterschenkel danach. Sein Rasiermesser steckte in seinem Stiefel, den er quer durch das Zimmer geworfen hatte. Strell seufzte. Er betrachtete den Stiefel in der Ecke, dann Alissa, die im Schlaf die Stirn runzelte. Schließlich sah er Kralle an. Der schlaue Vogel beobachtete ihn aufmerksam und ruckte mit den Flügeln, was aussah wie ein Schulterzucken. Widerstrebend ließ Strell die glänzenden Flechten aus seinen Fingern gleiten. Es nützte nichts. Er würde das Zimmer durchqueren und sein Messer holen müssen.
Er humpelte zu seinem Stiefel hinüber und zog das Messer heraus. Als er sich umdrehte, stieß er mit dem geschwollenen Knöchel gegen das Tischbein, und Schmerz durchzuckte sein Bein. »Ahhh …«, stöhnte er und schlug hastig die Hand vor den Mund. Ihm wurde schlecht, und er brach auf dem Boden zusammen.
»Strell?«, nuschelte Alissa.
Kralle schien zu kichern, und er beäugte den Vogel mit säuerlichem Blick, denn er fand das gar nicht komisch. »Psst, es ist alles gut«, murmelte er besorgt und summte ein Wiegenlied, bis Alissa wieder tief eingeschlafen war. Er blickte zu Kralle auf, als wollte er sie um Erlaubnis fragen, und schnitt dann rasch ein paar Strähnen von Alissas Haar ab, zufrieden, dass sie dabei nicht wieder aufwachte. »Siehst du«, flüsterte er sarkastisch, »das war doch gar nicht so schwer.« Der Falke sträubte das Gefieder, schloss die Augen und war offenbar überzeugt, dass nun nichts Interessantes mehr geschehen konnte.
Strell lehnte sich an den warmen Stein neben dem Kamin. Er drehte die seidig glatte Strähne zu einem Ring zusammen und steckte sie mit versonnenem Lächeln ein. Später würde er aus dem hart erkämpften Gold einen zarten Glücksbringer flechten. Das war albern, und er glaubte nicht an solche Dinge, doch ein Talisman war ein hübsches Stück Tand, genau das Richtige für seine Absichten. Er musste nur noch entscheiden, was für einen Talisman er knüpfen sollte. Das fiel ihm nicht schwer, und er entschied sich lächelnd für einen Talisman, der Glück brachte. Er hätte nie gedacht, dass er dieses Wissen einmal anwenden würde. Sein Großvater Trook, ausgerechnet, hatte ihm das beigebracht, obwohl die Fertigung von Talismanen ebenso wenig mit der Töpferkunst zu tun hatte wie das Flötespielen.
Als jüngstem Sohn war die Aufgabe, den alten Mann zu »unterhalten«, oft Strell zugefallen, obgleich es in Wahrheit meist andersherum gewesen war. Sie hatten einen ganzen Sommer im Schatten eines Bartok-Baums damit verbracht, Talismane aus Rosshaar herzustellen. Er kannte sie alle: Glück, Reichtum, Weisheit, Zufriedenheit, sogar Liebe.
Oh, dieser letzte war knifflig, und Strell grinste, als er in Erinnerung an frustrierende Stunden an die Decke blickte. Er hatte die Wirkung als kleiner Junge sogar einmal ausprobiert. Natürlich war sein Versuch fehlgeschlagen. Es waren ja nur ein paar Haare, verwoben und verknotet. In diesen komplizierten, lächerlichen Dingern lag keine Magie, gar keine Magie, aber es würde hübsch aussehen, wenn es fertig war.
Morgen würde er Alissa irgendwie davon überzeugen, ihr zerstörtes Zimmer zu verlassen, doch für heute Nacht war sie hier sicher bei ihm, genau da, wo sie seiner Meinung nach hingehörte. Strell schüttelte bedauernd den Kopf. Er wusste, dass seine Meinung in dieser Angelegenheit nicht viel zählte. Er würde einfach warten
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