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Alissa 1 - Die erste Wahrheit

Alissa 1 - Die erste Wahrheit

Titel: Alissa 1 - Die erste Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dawn Cook
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den Feldern und Wäldern. Die schwarzen Äste der Bäume stachen wie hinterleuchtet hervor, weil der Schnee auf dem Boden das silbrige Licht reflektierte. Weiter unten am Berg schimmerte das Mondlicht wie eine prächtige Pfütze auf dem tief hängenden Nebel. Es war, als stünden sie auf einer Insel in einem Wolkenmeer. Der Anblick war atemberaubend.
    »Bitte …«, sagte Bailic leise.
    Alissa wandte sich halb um und starrte ihn an. Sie erkannte, dass sein Wunsch aufrichtig war, und etwas wie Mitgefühl regte sich in ihr. Es musste schwer sein, das Augenlicht zu verlieren, dachte sie. Ins Zwielicht des Winterabends getaucht, sah er aus wie ein anderer Mensch. Obwohl sie es besser wissen sollte, trat sie noch näher heran. »Der Mond«, sagte sie, »wird in wenigen Tagen voll sein und hat den höchsten Punkt seiner Bahn noch nicht erreicht.«
    »Nein«, flüsterte er drängend. »Ihr missversteht mich. Wie fühlt sie sich an ?«
    Alissa verlagerte ihr Gewicht auf den anderen Fuß und schob ihre wachsende Nervosität beiseite. Was hatte sie sich nun wieder eingebrockt? »Die Nacht ist kühl und feucht vom Schnee, den sie mit sich bringt«, versuchte sie es erneut. »Der Wind treibt sein sanftes Spiel mit den kahlen, schwarzen Zweigen des Waldes, und sie wogen sacht hin und her, um sich über diese Störung zu beklagen.« Sie spürte, wie sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete, wie ihr Herz langsamer schlug und ihr Atem träge wurde. »Flüsternde Nachzügler der flüchtigen Wärme vom Tage haben den Nebel zu einem milchig-weißen Teich zusammengewirbelt, der an den Fuß der Feste plätschert. Schon steigt er auf und verschluckt die Bäume, einen nach dem anderen, und bald wird nur noch die Feste über den Nebel hinausragen, als schwimme sie auf einem Meer aus Luft, das im Mondlicht schimmert. Am Himmel halten nur die kraftvollsten Sterne dem leuchtenden Antlitz des Mondes stand, und selbst diese wenigen scheinen sich vor seiner Pracht zu verneigen, denn sie gestatten ihm allein, die Nacht zu erhellen.« Alissa, die sich schwer an die Wand gelehnt hatte, seufzte zufrieden.
    »Ja«, murmelte Bailic, »so würde auch ich es sehen.«
    Sie erstarrte, als sie seine Stimme vernahm. Bein und Asche! Sie hatte ganz vergessen, wo sie sich befand.
    Bailic wandte sich um und schaute durch sie hindurch, scheinbar ohne sie zu sehen. »Wartet«, sagte er, trat langsam an den Schreibtisch und kritzelte eine Botschaft. »Bringt dies Eurem Pfeifer. Vorsicht, die Tinte ist noch feucht.«
    Zu Asche verbrannt, dachte sie. Er war nicht ihr Pfeifer. Doch sie nahm das Blatt vorsichtig entgegen, als Bailic es ihr hinhielt. Sie blickte darauf hinab und las: »Morgen Eier und geröstetes Brot«. Was sollte das bedeuten?, wunderte sie sich und schwenkte das Papier durch die Luft, um die Tinte zu trocknen. »Ich bringe es ihm sofort«, sagte sie und trat einen Schritt zurück, doch Bailic streckte eine blasse Hand aus, bekam ihren Ärmel zu fassen und hielt sie auf. Sie starrte ihn finster an, riss sich los und fragte sich, was er nun wieder wollte. Vielleicht wünschte er noch ihre Meinung über den entzückenden Gestank zu hören, den er auf seiner Werkbank kreiert hatte.
    Mit leiser, weicher Stimme sagte er: »Ich habe Euch einmal die Chance geboten, Euch zu entscheiden, auf welcher Seite Ihr stehen möchtet.« Er zögerte. Dann atmete er tief durch und fuhr fort, und die spröde Aufrichtigkeit in seiner Stimme erschreckte sie. »Ihr habt noch immer keine Wahl getroffen.«
    Alissa fuhr zurück, als hätte er sie geschlagen.
    »Wie ich sehe«, sagte er, ohne den Ausdruck von Abscheu und Entsetzen auf ihrem Gesicht zu bemerken oder zu beachten, »habt Ihr aus irgendeinem Grund Eure Angst vor mir verloren. Umso besser. Sie nützt mir nichts.« Er trat an den Balkon und wandte ihr den Rücken zu. »Ich würde nicht viel von Euch verlangen«, erklärte er der Nacht. »Vielleicht Eure Gedanken über einen Abendregen oder die weiche Hitze eines Nachmittags im Sommer, dunstig und nach Bienen duftend.« Er seufzte lautlos, den Blick ins Unendliche gerichtet. »Ihr könnt gehen. Aber denkt darüber nach, und klopft jederzeit an meine Tür, wenn Ihr wieder – neugierig seid.«
    Sie unterdrückte ein Schaudern. Alissa nahm sein leeres Nachmittagstablett mit und trat über die Schwelle. Ihr drehte sich der Kopf ebenso wie der Magen, als sie zur Küche hinunterstieg und schwor, sich von Bailics Aufforderung nicht diesen einen schönen Abend

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