Alissa 1 - Die erste Wahrheit
Bündel. »So.« Sie sah ihm ins Gesicht und wischte sich die stinkende Salbe von den Fingern. »Das müsste helfen.«
»Danke«, sagte er. Dann zog er die Augenbrauen hoch und sah sie mit zur Seite geneigtem Kopf an. »Im Morgenlicht sind deine Augen grau. Ich dachte, sie wären blau.«
Alissa erstarrte. »Na und? Du hast eine krumme Nase«, erwiderte sie bissig. Seine Augen waren so braun wie die ihrer Mutter, mit goldenen Sprenkeln darin. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass ihre Köpfe sich beinahe berührten; sie wich zurück, sprang hastig auf und suchte nach etwas, womit sie sich beschäftigen konnte. Aber es gab nichts. Er hatte gepackt. Sie hatte gepackt. Sogar das Feuer hatte sie schon mit ihrer Sturzflut gelöscht. Also schnappte sie sich den Tiegel Salbe und stopfte ihn in ihr Bündel. Kralle schwang sich in die Luft, und ihr Keckem klang wie ein Lachen. Sobald der angemessene Abstand zwischen ihnen wiederhergestellt war, fielen Alissa ihre Stiefel ein. Sie ließ sich auf das karge Gras sinken, schnürte sie zu und verzog das Gesicht, als ihr Knöchel schmerzhaft zwickte. Morgen sollte er vollständig geheilt sein.
»Wirst du denn Weiterreisen können?«, fragte sie vorsichtig, denn sie befürchtete, dass sie nun moralisch verpflichtet sein könnte, hierzubleiben und das Kindermädchen zu spielen.
Strell krümmte und streckte vorsichtig die Hand und wurde ein wenig bleich, als die verletzte Haut spannte. »Ich komme schon zurecht. Ich will nichts riskieren, der Schneefall könnte ja früher einsetzen.«
»Ich weiß, was du meinst.« Alissa blickte gen Osten, den Berg hinab zu ihrem nicht mehr sichtbaren Zuhause. »Aber du bist schon weiter gekommen, als du denkst. Das hier ist das letzte Tal vor dem Hügelland.«
»Das letzte Tal?«, wiederholte er und zog die Brauen hoch. »Es ist das erste. Ich gehe in die Berge.«
Alissa starrte ihn an und spürte eine seltsame Mischung aus Abscheu und Panik in sich aufsteigen. Ach, bei den Hunden, dachte sie. Er wollte in dieselbe Richtung wie sie. »Bist du verrückt?«, rief sie in der Hoffnung, ihn zum Umkehren bewegen zu können. »Es ist zu spät, jetzt noch die Berge überqueren zu wollen, und mit deiner Hand …« Sie endete mit einer schwachen Geste. Es war offensichtlich, dass er zumindest ein paar Tage lang nicht unbedingt allein reisen sollte.
»Ich muss. Ich habe keine andere Wahl«, sagte er, und sein Gesicht wurde ausdruckslos.
Keine Wahl?, wunderte sie sich. Jeder hatte eine Wahl. Die Alternative gefiel einem eben manchmal nicht. Alissa wartete und hoffte, dass er ihr mehr darüber sagen oder erklären würde, sie habe recht, er werde auf der Stelle in sein Tiefland zurückkehren, wo er hingehörte. Doch das tat er nicht. Er saß einfach nur da, blickte auf seine abgetragenen Stiefel hinab und behielt seinen Kummer, wie immer der auch aussehen mochte, für sich.
Schön, dachte sie. Wenn er nicht bereit war, Vernunft anzunehmen, sollten sie sich besser auf den Weg machen. Der Schneefall würde nicht auf sie warten. Mit diesem Gedanken stand Alissa auf und schulterte ihr Bündel.
Strell blieb einfach sitzen.
»Kommst du?« Sie stand da, mit ihrem Stab in der Hand, und die ganze Situation kam ihr auf unheimliche Weise bekannt vor.
Er blickte von seinen offenbar höchst interessanten Stiefeln auf. »Ich habe es dir doch schon gesagt: Ich gehe nach Westen.«
Alissa hatte allmählich genug von seiner lächerlichen Einstellung und sah ihn stirnrunzelnd an. Mit ihrem empfindlichen Knöchel und seiner verbrannten Hand hatten sie beide hier draußen in den Bergen nichts zu suchen. »Wie kommst du darauf, dass ich nicht auch in diese Richtung gehe?«
Strell blickte starr zu ihr hoch. »Du machst Witze, oder?«
»Nein.«
»Was ist denn so wichtig, dass es nicht bis zum Frühjahr warten kann?«
Alissa schloss die Augen und kämpfte darum, ihre Stimme gelassen und milde klingen zu lassen. »Das geht dich nichts an. Warum kannst du denn nicht warten?«
Brummelnd kam Strell auf die Füße. Zu stolz oder zu stur, sie um Hilfe zu bitten, plagte er sich mit seinem Bündel ab, bis Alissa es ihm schließlich hochhielt. Er bedankte sich nicht, doch das hatte sie eigentlich auch nicht erwartet. Alissa konnte sich nicht vorstellen, wie er auch nur auf den Gedanken gekommen war, er könnte allein reisen. Strell blickte zum Pass hoch, dann an Alissa vorbei über das Tal hinaus. Plötzlich zeichnete sich Begreifen auf seinem Gesicht ab, und seine Augenbrauen
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