Alissa 1 - Die erste Wahrheit
beide seufzten. Er stand auf, klemmte sich das Buch unter den Arm und nahm seine Tochter bei der Hand. »Komm. Lass uns zu Mittag essen. Danach kannst du mir beim Packen helfen.«
»Packen?«
»Ja«, sagte er, und es schnürte ihm die Brust zu. »Ich muss einen weiteren Teil der Berge kartographieren.«
»Oh.« Im Vorbeigehen hob Alissa den Wanderstab auf und spähte zu dessen Ende hoch, das sich über ihrem Kopf befand. »Ist der für Mutters Schüsseln?«, fragte sie und reckte sich, um mit dem Finger die kleine Scharte zu berühren, die der herabfallende Beitel ins Holz geschlagen hatte.
Meson fuhr überrascht zusammen. »Nein«, log er. »Der ist für dich.«
»Danke«, hauchte sie und ließ den Stab im Takt ihrer Schritte auf den Boden klopfen.
»Das ist ein Abschiedsgeschenk«, sagte er und blickte sich auf seinem kleinen Hof um, als würde er ihn nie wiedersehen. »Ein Abschiedsgeschenk.«
Der Traum verschwamm, der Geruch schmutziger Fingernägel und trockener Kiefernnadeln drängte sich herein. Alissa kniff die Augen fest zu, hielt den Atem an und kämpfte damit, alten Schmerz wieder zu begraben. Langsam atmete sie aus.
Die Wölfe sollten sie holen, dachte sie kläglich. Sie hasste es, von Papa zu träumen. Doch diesmal war es ihr beinahe wirklich vorgekommen, als hätte sie es noch einmal durchlebt, als – als sei es ihre eigene Erinnerung. Sie hatte beim Schnitzen die trockenen Eschenholz-Späne gerochen, das Zwicken in seinem rechten Stiefel gespürt, über das er sich so oft beklagt hatte, und selbst jetzt noch war ihre Kehle so zugeschnürt wie seine an jenem Nachmittag. Er hatte es gewusst, dachte Alissa verbittert. Zu Asche sollte er verbrennen. Er hatte gewusst, dass er möglicherweise nicht zurückkehren würde.
Sie spürte, dass ihr die Tränen kamen, und rüttelte sich innerlich an der Schulter. Das war albern. Niemand träumt Erinnerungen, schon gar nicht die eines anderen. Sie würde es einfach vergessen. Außerdem roch sie warmes Essen. Es roch sogar gut, und dieser neuartige Sinneseindruck war unwiderstehlich.
Sie schlug die Augen auf und sah Strell, der den letzten Rest seines Frühstücks aus seiner Schüssel kratzte und ein Stück Leder betrachtete, das vor ihm auf dem Boden ausgebreitet war. Sein geflickter Mantel lag unberührt dort, wo sie ihn hingelegt hatte, nachdem Strell gestern Nacht eingeschlafen war. Ihr Hut saß auf seinem Kopf. Beim Gedanken daran, wie schamlos er sie gestern beim Flicken beobachtet hatte, befand sie, dass sie den Spieß ruhig umdrehen sollte; also rührte sie sich nicht.
Sein Hemd klebte ihm am Körper, noch feucht, nachdem er es offenbar gewaschen hatte. Ihm schien aber nicht kalt zu sein, was sie schrecklich ungerecht fand. Er fühlte sich unbeobachtet, fuhr sich mit der Hand über den Kopf und blickte mit schmalen Augen zum Pass auf. Sie konnte beinahe erkennen, was da vor ihm auf dem Boden lag. Wenn er nur ein Stückchen beiseiterutschen würde …
Kralle stürzte aus dem Himmel herab und erschreckte sie beide mit ihren scharrenden Krallen und lautstarkem Geschimpfe. Alissa konnte sich nicht länger schlafend stellen. Strells Blick huschte zu ihr hinüber und sogleich wieder weg, als sie sich aufrichtete. Kralles Klauen hielten einen Grashüpfer umklammert, und der kleine Vogel wartete ungeduldig hüpfend darauf, dass Alissa ihm gebührende Aufmerksamkeit widmete. Von dem Tag an, als sie sich begegnet waren, beharrte Kralle darauf, Alissa ihren Fang anzubieten. Sie fraß niemals, bevor Alissa verschmähte, was auch immer der Buntfalke erjagt hatte. Doch heute Morgen würde Kralle warten müssen. Alissa wollte unbedingt wissen, was Strell da zusammenrollte und wegpackte.
»Guten Morgen«, sagte sie vorsichtig und gab vor, sich zu räkeln, um noch einen guten Blick auf das Leder zu erhaschen. Sie fand, dass sie ihm trotz seiner Beleidigungen von gestern Abend zumindest höflich begegnen konnte.
»Morgen«, brummte er und musterte Kralle argwöhnisch, während er die zusammengerollte Lederhaut in seinem Bündel verstaute.
Da Alissa nicht sicher war, ob er noch wegen gestern Abend wütend auf sie oder einfach kein Morgenmensch war, wandte sie sich Kralle zu. »Was für einen prächtigen Grashüpfer hast du gefangen!«, lobte sie. »Ich bin gerade nicht hungrig«, log sie. »Iss ihn ruhig.«
Von der anderen Seite des Feuers war ein höhnisches Schnauben zu hören, das Alissa geflissentlich ignorierte. Als teilte Kralle ihre Anspannung,
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