Alissa 1 - Die erste Wahrheit
folgte dem Ufer, bis sie das Lager nicht mehr sehen konnte. Vorsichtshalber lief sie noch ein Stück weiter, warf einen nervösen Blick hinter sich, zog sich dann aus, watete hinein und schnappte nach Luft, als sie merkte, wie tief sie im Schlamm einsank, bis sie festen Grund unter den Füßen hatte.
Das Wasser war kalt, aber es fühlte sich so gut an, endlich wieder sauber zu sein, dass sie tiefer hineinwatete und schließlich die Zeit und die Seife vergaß und beinahe auch den Felsen aus den Augen verlor, auf dem sie ihre Kleider zurückgelassen hatte. Gänsehaut und eine plötzliche, irrationale Angst davor, was sich in den dunklen Tiefen verbergen mochte, trieben sie schließlich wieder ans Ufer.
Während sie auf einem Felsen hockte und nachsah, ob sie irgendwelche ungebetenen Gäste zwischen den Zehen mitgebracht hatte, drang Strells Musik schwach über das stille, purpurfarbene Gewässer. Sie klang anders als beim letzten Mal, ein wenig höher, aber stärker, voller. Mit ungeschickten, steifen, feuchten Fingern zog sie mühsam einen frischen Kittel und ihre zweite Hose an und schnürte ihre Taille mit einem schmalen Band. Ihr gefiel diese Aufmachung. Der Kittel reichte ihr bis zu den Knien, so dass sie zumindest so tun konnte, als trüge sie ein Kleid, wie sie es gewohnt war. Wasser tropfte aus ihrem Haar und zog eine kalte Spur über ihren Rücken, und sie zitterte leicht; sie wollte nur noch schnell ans Feuer. Mit den Stiefeln in der Hand stakste sie vorsichtig durchs Gebüsch.
Strell blickte auf, als sie den Lichtkreis des Feuers betrat. Seine Augen weiteten sich, als er ihre nackten Füße sah, und mit roten Wangen wandte er hastig den Blick ab. Entsetzlich verlegen sank Alissa auf ihre Matte und zog sich die Strümpfe an. Niemand hatte mehr ihre nackten Füße gesehen, seit sie fünf Jahre alt gewesen war. Asche, sie hätte ebenso gut nackt unter den Bäumen hervortanzen können. Er musste sie für eine völlig schamlose Barbarin halten. Auch das Wissen, dass ein ganzes Volk von Bauern manchmal tagelang ohne Schuhe umherlief, milderte die Peinlichkeit kein bisschen. »War das eben deine Musik?«, fragte sie in die verlegene Stille hinein.
Mit einem bitteren Schnauben streckte Strell die gesunde Hand nach seinem Wasserschlauch aus. Er füllte Alissas Mörser und stellte ihn an den Rand des Feuers. »Die leichten Stücke schaffe ich«, sagte er, »aber für die schwierigeren Sachen reicht es noch nicht.«
Alissa spähte über das Feuer zu ihm hinüber. »Das ist eine neue Flöte, oder?«
»Ja – ich meine, nein.« Er zuckte mit den Schultern. »Die ist von meinem Großvater. Ich spiele sie nicht oft.«
»Warum nicht? Sie klingt besser als die andere.«
»Ja«, stimmte er hastig zu. »Aber, na ja …« Strell schloss den Mund und runzelte die Brauen. »Ich spiele sie eben nicht. Das ist alles.«
Alissas Jagdinstinkt erwachte. Es war nicht Kummer, der seine Lippen versiegelte, sondern Verlegenheit. »Darf ich sie mir ansehen?«, fragte sie, und als er tatsächlich zögerte, weil er erst darüber nachdenken musste, war sie sicher, dass es hier um irgendetwas ging, das er nicht zugeben wollte. Sie zog in spielerischer Herausforderung die Brauen hoch, und er neigte sich auf den Knien leicht nach vorn, um ihr die Flöte zu geben.
Sie war kurz, etwa so lang wie ihr Unterarm, aber schwerer, als sie aussah, und sehr fein gearbeitet, aus einem einzigen Stück rötlichen Holzes. Die fein polierte Oberfläche schien noch immer einen leichten Duft nach herben Äpfeln und Kiefernholz zu verströmen. Die Flöte war ein erlesenes Instrument, und Alissa verstand, warum er ihr über die Schulter blickte, so besorgt wie eine junge Mutter, die einem Fremden erlaubt hat, ihr Baby im Arm zu halten. »Sie ist wunderschön«, sagte sie und gab sie ihm zurück.
Das Lächeln, mit dem er sie wieder an sich nahm, war halb erleichtert, halb erfreut. »Sie ist schon seit Generationen im Besitz meiner Familie«, erklärte er. »Es ist Tradition, ein quengeliges Baby damit in den Schlaf zu lullen. Meine Mutter sagt …« Er zögerte einen Augenblick. »Sie hat gesagt, bei mir hätte die Flöte nie gewirkt. Ich hätte nur umso lauter geweint.«
Alissa kicherte, denn es überraschte sie nicht, dass Strell schon als Säugling zu stur gewesen war, um auf eine solche List hereinzufallen. »Hm«, brummte sie und hoffte, ihm die Wahrheit doch noch entlocken zu können. »Wenn meine Flöte so schön wäre, würde ich ständig darauf
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