Alissa 1 - Die erste Wahrheit
spielen.«
»Besondere Gelegenheiten oder üppiger Lohn«, sagte er, wich ihrem Blick aber aus. »Sie – äh – bereitet mir Kopfschmerzen, wenn ich zu lange darauf spiele.«
»Kopfschmerzen?« Und das sollte sie ihm abnehmen? Lächerlich.
Alissa glaubte Strell ganz in Gedanken verloren, als er eine schlichte Melodie in die von Grillenzirpen erfüllte Nacht hinausschickte. Unwillkürlich ließ Alissa sich ein wenig zusammensinken bei diesen Tönen, so weich und voll wie die Farbe der Flöte. »Das ist schön«, sagte sie seufzend, und es war ihr gleich, ob er violette Flecken davon bekam, wenn er darauf spielte. Strell neigte anmutig den Kopf, verpasste dabei aber keinen Ton.
Inzwischen kochte das Wasser, und als Alissa die Teeblätter hineinwarf, breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Nicht nur, dass das Lager schon ordentlich aufgebaut war, auch Strells Kochtopf war bereits voll und blubberte vor sich hin. »Du meine Güte«, hauchte sie, als ihr auffiel, dass er außerdem glatt rasiert war. »Wie lange war ich denn weg?«
Er traf einen falschen Ton und ließ das Instrument sinken. Grinsend nahm er einen Löffel zur Hand, füllte etwas Dickflüssiges, Dampfendes in seine Schüsseln und reichte ihr die größere Portion. »Nicht lange. Ich habe mich beeilt.« Geistesabwesend rieb er sich das Kinn.
Alissa schloss die Augen und schnupperte ausgiebig. »Mm, das riecht wunderbar.« Sie kostete vorsichtig einen Bissen. »Und es schmeckt köstlich.« Offenbar hatte sie das Richtige gesagt, denn Strell schenkte ihr einen dieser ausdrucksvollen Brummlaute, ehe er sich ganz seiner eigenen Schüssel widmete. Er sprach nie, während er aß, sondern verzehrte jede Mahlzeit mit dem Ernst eines Bettlers, der sein Geld zählte.
»Das ist wirklich sehr gut«, sagte Alissa, die das Schweigen mit irgendetwas außer dem Kratzen von Löffeln füllen wollte. »Es ist lange her, seit jemand etwas Essbares für mich gekocht hat.« Sie stupste eine weiche Wurzel mit dem Löffel an. »Ich war acht, als ich die Küche übernommen habe. Meine Mutter hat das Kochen nie gemeistert.«
Strell machte eine kurze Atempause und lächelte schwach. »Sie war gerade dabei, Brot zu verbrennen, als ich sie getroffen habe.«
»Ihr Brot ist immer verbrannt.« Alissa schob die weißen und braunen Klumpen in ihrer Schüssel herum, auf der Suche nach Zutaten, die sie kannte. Sogar der Geschmack war ihr neu. Ein erdiges, holziges Aroma. »Aber das hier schmeckt wirklich lecker. Was ist das? Ein traditionelles Tiefland-Gericht?«
Strell blickte auf und rasch wieder weg. »Ach, dies und das.«
»Dies und das?« Alissa war ein wenig beunruhigt. Diese letzte Wurzel war wirklich sehr zart gewesen. Sie war eigentlich nicht lange genug fort gewesen, als dass er Wurzeln so weich hätte kochen können. »Du hast doch nichts von deinem –«
»Ich schwöre«, unterbrach er sie. »Ich habe nichts in diesen Topf getan, das je Beine hatte.«
Beruhigt aß Alissa weiter; allmählich lernte sie Strells Vorliebe für stumme Mahlzeiten zu schätzen. Doch dann wurde sie nachdenklich. Wenn das kein Fleisch war, was war es dann? Sie hörte auf zu kauen. Ihre Zunge tastete in ihrem Mund herum und versuchte zu identifizieren, was sie da berührte. Weich. Glatt. Ein bisschen matschig. Das war keine Wurzel.
»Äh, Strell?«
»Frag lieber nicht, Alissa.« Er blickte nicht einmal auf.
»Strell?« Sie schluckte schwer. »Hat … hat sich das Essen je selbständig fortbewegt?«
Sein Blick flackerte zu ihr hoch und sogleich wieder zu Boden. »Nicht weit.«
»Das sind Maden !«, schrie Alissa und spürte, wie sie rot wurde.
Strell seufzte und wich ihrem Blick aus. »Das ist doch ganz gleich – es füllt deinen Magen. Essen ist Essen. Und sie hatten keine Beine, Alissa.«
Sie betrachtete ihre halb geleerte Schüssel. Sie betrachtete Strell. Langsam stellte sie die Schüssel weg. Strell kicherte und aß ungerührt weiter.
Alissa zog sich die Decke bis über die Ohren und versuchte, seine Begeisterung für sein Mahl zu ignorieren. Sie hatte solche Geschichten gehört, aber nie geglaubt. Die Tiefebene war ein raues Land: unerträglich heiß im Sommer, betäubend kalt im Winter. Die Menschen im Vorgebirge verwendeten all ihre Arbeitskraft darauf, sämtliche Nahrungsmittel – nun ja, die meisten offensichtlich – anzubauen oder zu züchten, die im Tiefland gegessen wurden. Deshalb hatte man im Hügelland wenig Zeit, andere lebensnotwendige Dinge herzustellen.
Weitere Kostenlose Bücher