Alissa 1 - Die erste Wahrheit
aus dem Dorf gejagt und den Stuhl verbrannt, auf dem ich gesessen hatte. Sie hatten Angst, ich könnte die Meister zu ihnen locken. Wo immer sie auftauchen, heißt es, rauben sie die Kinder und bringen dafür den Krieg. Ich dachte erst, das wären nur Geschichten, mit denen man Kindern Angst einjagt, damit sie gehorchen, aber die Erwachsenen fürchten sich genauso.«
»Das müssen irgendwelche anderen Meister sein«, entgegnete Alissa und rutschte rückwärts, bis sie wieder einen gehörigen Abstand zu Strell hergestellt hatte. »Die, von denen mein Papa mir erzählt hat, waren sehr zivilisiert.«
»Und es gibt sie wirklich? Sie wohnen hier?« Aufgeregt deutete er auf die Karte, und Alissa nickte nervös.
»So steht es jedenfalls auf der Karte«, erklärte sie.
»Bei den Hunden«, keuchte er. »Ich komme mit dir. Das muss ich sehen.«
»Nein, du kommst nicht mit«, sagte sie rasch.
Strell schnaubte. »Und wie willst du mich daran hindern?«
Alissa schloss kurz die Augen und wünschte, sie würde endlich lernen, den Mund zu halten.
Mit der Karte in der Hand stand Strell auf und marschierte einfach los; offenbar hatte er vergessen, dass sie immer noch hier auf dem Boden saß. Alissa holte tief Luft, um aufzustehen, und stieß überrascht den Atem wieder aus, als er herumfuhr und zu ihr zurückkam. »Augenblick«, sagte er aufgeregt und wedelte mit der Karte. »Du hast gesagt: ›So steht es auf der Karte.‹ Du kannst diese Kringel lesen?«
Sie verzog das Gesicht – das wurde ja immer schlimmer. »Mein Papa hat es meiner Mutter und mir beigebracht. Kannst du denn nicht lesen?« Sie senkte den Blick und schnürte ihre wunderschönen Stiefel. Es war ihr gleich, ob sie sich wie ein verwöhntes Hochland-Gör anhörte. So hatte sie sich das Ganze nicht gedacht.
»Ich kann lesen«, sagte Strell empört. »Ich trage einen verbrieften Namen.«
Sie zuckte mit den Schultern. Was kümmerte es sie, ob er seine Abstammung über vier Jahrhunderte bis zu den ersten Familien zurückverfolgen konnte, die sich im Tiefland niedergelassen hatten? »Das kannst du aber nicht lesen«, sagte sie und wies auf die Karte.
Strell zögerte und hockte sich dann neben sie. »Nein. So eine Schrift habe ich noch nie gesehen. Nirgends. Kannst du das hier lesen?« Er fegte die Blätter beiseite und kratzte mit einem Zweig Zeichen in die Erde.
Alissa warf einen Blick darauf und sah hastig wieder weg. »Nein.« Um nicht völlig unwissend zu erscheinen, deutete sie dann auf das siebte Zeichen. »Das da kenne ich.« Dieses Zeichen war in die Herdkacheln zu Hause eingeritzt. Es waren Hirdun-Kacheln, dachte sie und unterdrückte ein Stöhnen. Sie hätte es wissen müssen.
»Gut.« Strell stand auf. »Es gefällt mir, etwas zu wissen, was du nicht weißt.«
Das traf sie, und sie warf angewidert mit seinem alten Hut nach ihm. Er fing ihn auf, zwinkerte ihr zu und warf ihn zurück. »He!«, rief sie aus. »Ich kann lesen.«
»Ja, bestimmt«, sagte Strell gedehnt und griff nach ihrem Bündel.
»Das ist meins!«, rief Alissa, rappelte sich auf und entriss es ihm. Er war wirklich furchtbar, dachte sie und schob sich an ihm vorbei, um die Führung zu übernehmen. Doch es dauerte nicht lange, bis sie, wie üblich, hinterherhinkte. Aber irgendwie, stellte sie fest, meinte sie ihre scharfen Worte gar nicht mehr so böse.
– 10 –
S ie fanden den See lange vor Sonnenuntergang, und nach einer Diskussion, die laut genug war, um die Eichelhäher aufzuschrecken, entschieden sie, am Rand einer nahen Lichtung zu lagern. Alissa räumte gerade ein Plätzchen für die Feuerstelle frei, als ein leises Plumpsen im Gras zu hören war.
»Magie?«, fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen.
Strell errötete. »Nein.« Ein Stein flog nach links.
Sie schürzte die Lippen, als ein dritter zu seiner Rechten landete. »Wirklich nicht?«
»Wirklich nicht«, sagte er und blies Staub in ihre Richtung.
»Pff.« Tiefländer, dachte sie. »Sind wir jetzt sicher ?«
»Außer du hast an deinen Schuhsohlen etwas Böses hereingetragen.«
Alissa schüttelte entnervt den Kopf und kam ihm zuvor, als er nach dem Wasserschlauch griff. »Ich hole Wasser«, erbot sie sich. »Ich will ohnehin schwimmen gehen.« Strells Wasserschlauch war fast voll, doch sie würden mehr brauchen, wenn es für den ganzen Abend reichten sollte.
Strell nickte. »Ich sehe mal nach, was ich fürs Abendessen finde.«
Alissa schnappte sich ihre Seife und frische Kleidung, ging zum See und
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