Alissa 1 - Die erste Wahrheit
Geschichten«, sagte er. »Erzählst du mir eine?«
Das leise Prickeln in Alissas Hinterkopf wurde zu einem Summen. Als sie erschrocken aufblickte, verlor sie das Gleichgewicht. Sie streckte die Arme aus, um den Boden zu finden, und blinzelte, weil sie auf einmal verschwommen sah.
»Alissa?«, hörte sie Strells Stimme, die hohl und fern klang. »Ist alles in Ordnung? Du siehst nicht gut aus.«
»Äh – nein«, murmelte sie und bemerkte nun, dass die Bäume offenbar wieder Blätter hatten, die sogar grün waren, dass die Sterne verschwunden waren und sie Gänseblümchen im Gras sehen konnte, die nicht da sein dürften. Ihr Blick verschwamm immer mehr. »Hör mal«, sagte sie und bemühte sich aufzustehen. »Riechst … riechst du auch Äpfel?« Und damit verschwanden die Lichtung und Strell aus ihrem Blickfeld.
Meson warf seinen Apfelbutzen in die Kiefern und runzelte die Stirn. Sein Blick richtete sich empor in den leeren Himmel, dann auf den majestätischen Berggipfel, der über der Festung aufragte, und schließlich auf die Feste selbst. Nichts zu sehen, was ihm hätte erklären können, was er hier vorgefunden hatte.
Das äußere Tor stand offen – wie üblich. Jemand hatte die mächtigen Torflügel bei einem längst vergessenen Zwischenfall mit einem Bann belegt, und das schwere Holz konnte nicht mehr von der Stelle bewegt werden. Dahinter lagen die mit prachtvollen Schnitzereien verzierten, aber nicht weniger gewaltigen inneren Türen. Sie waren verriegelt, doch es war einfach, einen Bann zu durchschreiten, der nur vor allgemeinem Zutritt schützen sollte. Von außen sah alles so aus, wie es sein sollte; erst das Innere enthüllte die wahre Geschichte.
Die Feste war so gut wie verlassen, und das konnte nicht sein.
Gestern, kaum eine halbe Tagesreise entfernt, hatte er einen stummen Gruß ausgesandt, um den Bewohnern der Feste sein Kommen anzukündigen. Niemand hatte ihm geantwortet. Heute Morgen, von genau dieser Stelle aus, hatte er eine geistige Durchsuchung der Feste in Angriff genommen und dabei einen Faden vertrauter Gedanken aufgeschnappt. Es war Bailic. Meson fand ihn in Talo-Toecans Gemächern. Abgesehen von Bailic entdeckte er keine weiteren Bewahrer, keine Schüler oder Meister. Alle waren fort. Irgendetwas Schreckliches war geschehen.
Da Meson gelernt hatte, sehr vorsichtig zu sein, was seinen »alten Freund« Bailic betraf, hatte er den Vormittag damit zugebracht, verstohlen in der Feste und auf den umliegenden Ländereien herumzuschleichen. Seine Erkundung der stillen Hallen und brachliegenden Felder und Gärten diente einem doppelten Zweck. Sie bestätigte das Ergebnis seiner geistigen Durchsuchung, dass nur Bailic übrig geblieben war. Außerdem legte er auf diese Weise viele falsche Spuren und verschleierte das Versteck, in dem er das Buch hinterlegte. Meson war nicht so blauäugig, das Buch ausgerechnet zu dem Mann zu bringen, der vermutlich für die Leere dieser Hallen verantwortlich war.
Der böige Wind wehte, ließ nach, frischte wieder auf. Er ließ die Blätter am Tor zu einem raschelnden Trichter aufwirbeln, um sie dann, als sei er des Spielchens müde, wieder fallen zu lassen und davonzueilen. Meson schulterte sein Bündel und lief durch die späten Gänseblümchen weiter. Als er zwischen den hohen Türflügeln hindurchschlüpfte, spürte er, wie der Wahrheitsbann der Feste ihn erfasste.
Die Meister der Feste verabscheuten Lügen, obwohl sie durchaus gewillt waren, die Grenzen der Wahrheit zu strapazieren oder sie aus den unmöglichsten Blickwinkeln zu betrachten. Da sie wussten, wie leicht Menschen sich beeinflussen ließen, hatten sie vor langer Zeit die gesamte Feste, vom höchsten Balkon bis zu den legendären, aber noch nie gesehenen Verliesen, mit einem Wahrheitsbann belegt. Eine ganze Generation von Meistern hatte ihn immer wieder genährt, bis es hieß, die Mauern der Feste selbst würden zu seinem Schutz auf jeden herabstürzen, der es wagte, diesen Bann brechen zu wollen. Doch das hatte Bailic nie daran gehindert, es zu versuchen.
Meson blieb in der weitläufigen Eingangshalle stehen, und seine Augen wurden schmal. Die Halle war ausgeräumt worden. Kein Faden Stoff, kein einziges Möbelstück machte die uralten grauen Wände wohnlicher. Beim ersten Mal hatte ihn dieser Anblick entsetzt, jetzt machte er ihn wütend. Sogar das Pendel, das sonst stumm die Drehung der Erde und das Fortschreiten der Zeit bezeugte, war verschwunden. Die Treppe aus gelbem Stein wand
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