Alissa 1 - Die erste Wahrheit
sobald er außer Sicht war, machte Kralle kehrt und flog auf sie los.
»He!«, schrie Alissa und duckte sich rasch. Ihr blieb vor Schreck der Mund offen stehen, als Kralle begann, sie auszuschimpfen. Der Vogel hüpfte auf seiner Beute auf und ab, flatterte mit den Flügeln und kreischte wie die sprichwörtliche Banshee. Erst hüpfte sie auf der Maus herum, dann auf dem Vogel, dann wieder auf der Maus. Sie fraß sie nicht; sie riss sie in Fetzen. Als die Überreste über das gesamte Lager verteilt waren, flog Kralle auf den schwindenden Stapel Feuerholz und schien Alissa absichtlich die kalte Schulter zu zeigen.
Im Lager wurde es still. Sogar der morgendliche Gesang der Vögel war verstummt, als seien sie über Kralles Wutausbruch erschrocken. »Kralle?«, versuchte Alissa es vorsichtig, und der Vogel erstarrte. »Na schön!«, sagte Alissa. »Wie du willst. Er wollte mir doch nur helfen.«
Kralle drehte sich um, legte den Kopf schief und funkelte Alissa an, als verstünde sie jedes Wort.
»Dann erlebe du doch mal den Tod deines Papas mit und sieh zu, ob du besser damit fertigwirst!«, schrie Alissa. »Ich habe keine Ahnung, was hier los ist, und wenn jemand mir auch nur das kleinste bisschen Mitgefühl zeigt, verwandelst du dich in eine misstrauische Wachziege! Von mir aus bleib ruhig auf deinem Stock sitzen. Ist mir doch völlig gleich!« Wieder brannten Tränen in ihren Augen, und sie wandte sich ab, um Matte und Decke zusammenzupacken.
Ein vertrautes Flattern war zu hören, und Kralle landete auf ihrem Handgelenk, nun beinahe geknickt. Sie hatte ihre Maus, oder das, was davon übrig war, in einer Klaue und versuchte sie in Alissas geballte Faust zu schieben. Sogleich verebbte Alissas Wut. »Ist schon gut«, sagte sie seufzend und nahm das verstümmelte Ding an. »Du wusstest ja nicht Bescheid.«
Hinter sich vernahm sie leise Schritte, und Strell rief vorsichtig: »Kann ich wiederkommen?«
Alissa drehte sich um und schenkte ihm ein dünnes Lächeln. »Ja. Erwarte nur keine Entschuldigung von ihr.«
Kralle erstarrte, schnappte sich ihre Maus und zog sich in den Nebel zurück. Strell schob sich langsam ins Lager vor. Er wühlte in seinem Bündel herum und wich Alissas Blick aus. Es war kalt, und sie schlüpfte in ihren Mantel und zog noch die Decke über ihre Schultern, während sie sich um das Feuer kümmerte.
Strell zögerte, als er den abgerissenen Flügel auf seiner Decke sah, und stupste ihn schließlich mit dem Fuß herunter. »Was unter allen Himmeln …«, sagte er.
»Also, nun sag schon …«, begann sie im selben Moment.
»Du zuerst«, schlug er vor, stellte ihren Mörser in die Glut und füllte ihn mit frischem Wasser.
Alissa entdeckte ihre wunderschönen cremefarbenen Stiefel und reckte sich, um sie zu erreichen, ohne sich aus der Decke wickeln zu müssen. »Wie lange war ich weg?«
»Nur den gestrigen Abend. Jetzt bin ich dran. Was sollte das Ganze?«
»Du meinst, dass ich in Ohnmacht gefallen bin? Ich weiß es nicht. Aber es war nicht meine Schuld«, fügte Alissa trotzig hinzu. »Alles, was ich weiß, ist, dass ich eine Erinnerung geträumt habe, die ganz sicher von meinem Vater stammt.«
»Und so etwas ist noch nie zuvor geschehen?«
»Nein.« Alissa sah zu, wie das schwappende Wasser sich beruhigte, und fühlte sich irgendwie benutzt. Sie krümelte einen Reisekeks in die Schüssel, aus der sogleich ein wunderbarer Duft nach Äpfeln und Nüssen aufstieg. Ihre Gedanken kehrten zu dem seltsamen Traum über ihren Vater zurück, den sie neulich morgens gehabt hatte. »Vielleicht ein Mal«, fügte sie hinzu.
Der distanzierte Ausdruck in Strells Augen wurde unverkennbar mitfühlend. »Möchtest du mir davon erzählen?«
Sie nickte. Sosehr es sie auch schmerzte, es war sicher besser, es ihm jetzt zu erzählen, da sie sich bereits ausgeweint hatte. Während sie gemeinsam im kühlen Morgennebel saßen und darauf warteten, dass ihr Frühstück richtig aufweichte und essbar wurde, erzählte sie ihm von der Feste und von Bailic. Die ganze Zeit über kehrten ihre Gedanken immer wieder zu dem Buch zurück wie Bienen zu einem Honigbaum. Mehrmals musste Strell ihre abschweifende Aufmerksamkeit zurückholen, weil sie sich in Gedanken daran verlor, wo das Ding wohl versteckt sein mochte. Nun war sie mehr denn je entschlossen, die Feste zu erreichen. Sie wollte dieses Buch. Bailic konnte nicht mehr dort sein. Er hätte ja verrückt sein müssen, um ganz allein vierzehn Jahre lang in einer leeren
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