Alissa 1 - Die erste Wahrheit
Festung zu hocken.
»Und deine Mutter hat dich einfach so in die Berge gehen lassen?«, rief Strell aus, reichte Alissa ihre Schüssel voll Brei und setzte sich neben sie.
»Sie hat mich nicht gehen lassen. Sie hat mich dazu gezwungen.«
Strell starrte sie an, und Alissa kicherte. Sie konnte seine Verwunderung gut verstehen. Welche Mutter wirft schon die eigene Tochter einfach aus dem Haus? Die übliche Methode beinhaltete zumindest eine Hochzeit. »Diese nette Dame kann so etwas nicht getan haben«, brachte er schließlich heraus.
»Oh doch. Sie hat gesagt, die Leute in der Feste könnten meine Ausbildung vollenden, was auch immer das heißen soll. Vielleicht meinte sie damit, dass ich Bewahrerin werden soll.« Alissa senkte den Blick, und sie zeichnete mit ihrem Löffel bedrückt einen Kreis in ihr Frühstück. »Sie wusste ja nicht, dass die Feste leer ist, als sie mich fortgeschickt hat.«
Sie hatte auch nicht gewusst, warum Papa nie zurückgekehrt war, dachte Alissa verdrießlich.
»Magie?«, murmelte Strell. Er begann, sein Frühstück in sich hineinzuschaufeln, und mied sorgsam ihren Blick.
»So etwas wie Magie gibt es nicht«, sagte Alissa hastig.
Er blickte auf. »Alissa, du hast den Tod deines Vaters gesehen. Wenn das keine Magie ist, was ist es dann?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte sie und biss sich auf die Unterlippe.
Strell hörte auf zu kauen und starrte sie erschrocken an. »Du bist aber keine Shaduf, oder?«
In Gedanken ganz mit ihrem Papa beschäftigt, schüttelte Alissa den Kopf.
»Du hast den Tod deines Vaters gesehen? Ist das nicht genau das, was Shadufs tun?«
Sie warf ihm einen verärgerten Blick zu. »Ich bin keine Shaduf«, sagte sie. »Das wird in bestimmten Familien vererbt. Mein Blut ist sauber.«
»Aber dein Jähzorn –«
»Mein Jähzorn hat nichts damit zu tun!«, brüllte sie. »Und die Gilden finden einen sofort und nehmen einen in die Ausbildung.« Sie senkte den Blick. »Außerdem ist das Erste, was eine Shaduf jemals sieht, der eigene Tod, nicht der ihres Vaters. Ich habe seinen Tod miterlebt , nicht vorhergesehen . Bedrückt schob Alissa ihre Schüssel von sich. »Und siehst du auch nur einen blauen Faden an mir?«
Er schüttelte ernst den Kopf. Shadufs, Männer wie Frauen, trugen stets Blau, als Zeichen ihres Amtes; je tiefer das Blau, desto stärker die Gabe. In Wirklichkeit war das eine Warnung, ihnen aus dem Weg zu gehen. Je tiefer das Blau, desto schneller machte man, dass man wegkam. Sie waren nicht besonders nett.
Strells Augen weiteten sich. »Vielleicht bist du eine Septhama!«
Alissa wandte sich angewidert ab. Was für ein abergläubisches Milchbübchen, dachte sie.
»Das ist es, nicht wahr?«, rief er und wich vor ihr zurück. »Bein und Asche, hast du – deine Septhama-Sachen gemacht? Und mir die ganze Zeit über nichts gesagt?«
Sie nahm ihre Schüssel wieder zur Hand und ignorierte ihn. Er wurde allmählich beleidigend. Deine Septhama-Sachen gemacht , also wirklich. Doch er saß nur da und starrte sie mit schreckgeweiteten Augen an, als sprössen Radieschen aus ihrem Kopf. »Ich dachte, du glaubst nicht an Magie«, sagte sie schließlich.
»Magie, nein. Geister?« Er schauderte. »Ja.«
»Hör mal«, sagte sie geduldig. »Ich bin keine Septhama. Weißt du überhaupt, was die tun?«
»Ja. Sie treiben Geister aus.«
»Falsch. Sie verändern die Emotionen, die nach einer Tragödie zurückbleiben, damit sie niemanden mehr stören.«
»Ja. Sie treiben Geister aus.«
»Strell«, redete sie auf ihn ein, »ein traumatisches Ereignis hinterlässt so etwas wie einen Abdruck auf der Umgebung. Wenn am selben Ort Emotionen auf einem ähnlichen Niveau entstehen, und sei es hunderte von Jahren später, dann wird dadurch eine Resonanz ausgelöst, die wie ein Echo wirkt und die vorhandenen Kräfte vervielfacht, bis sie für Menschen sichtbar werden. Das ist alles.«
»Du bist also eine Septhama.«
Alissa verdrehte die Augen. »Nein. Ich habe ein Buch darüber gelesen. In Ordnung?«
Doch er hockte noch immer so nervös da. »Es gibt keine Bücher über Septhamas.«
»Bei mir zu Hause schon«, brummte sie und seufzte dann. »Ich bin keine Septhama. Ich bin einfach nur ich. Keine Geister, keine Auren, keine Visionen aus der Zukunft, einfach nur ich, ein Mädchen auf dem Weg zu einer sagenhaften Festung.« Das klang vollkommen absurd, und Alissa saß da und kochte vor sich hin, weil sie nun selbst nicht mehr wusste, was sie denken sollte. Den Weg zur
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