Alissa 1 - Die erste Wahrheit
war ihr gleich, ob der unerzogene Tiefländer ihr dabei zusah oder nicht. Sie spürte eine sanfte, zögerliche Berührung an der Schulter, und er flüsterte etwas. Bis zu diesem Augenblick hätte sie vielleicht wieder aufhören können zu weinen, doch seine kleine, mitfühlende Geste machte jegliche Hoffnung darauf zunichte, und Alissa klammerte sich an ihn, zog ihn zu sich herab und schluchzte nur umso heftiger.
Sie spürte, wie Strell zunächst erstarrte und sich dann wieder entspannte. »Wer ist gestorben?«, fragte er leise und legte ihr vorsichtig eine Hand auf die Schulter.
»Mein Papa!«, weinte sie in sein Hemd. Es fühlte sich an ihrer zerschrammten Nase rau an und roch nach heißem Sand und Weite. »Als ich fünf war, ist er zu einer seiner Expeditionen aufgebrochen, um die Berge zu kartographieren. Wir haben nie erfahren, was ihm zugestoßen ist. Er ist gestorben«, klagte Alissa, »damit Bailic nichts von mir erfährt.« Neue Tränen flossen, und es dauerte eine Weile, bis ihr bewusst wurde, dass Strell sie etwas gefragt hatte. »Wie bitte?«, schniefte Alissa. Er kniete neben ihr, die Arme um ihre Schultern gelegt, und hielt sie fest mit dem Jetzt verbunden, damit sie sich nicht im Damals verlor.
Er lächelte und fuhr mit dem Daumen unter ihrem Auge entlang. »Ich habe gesagt: ›Damit wer nichts von dir erfährt?««
»Bailic.« Sie wandte sich ab. »Früher war er ein Freund meines Vaters.«
»Dein Vater war ein Bewahrer der Feste«, sagte Strell leise und wie zu sich selbst.
»Ja, das stimmt.« Alissa blickte überrascht zu ihm auf. »Wie bist du darauf gekommen?«
Strell warf einen nervösen Blick gen Westen. »Also, was weißt du über ihn? Bailic, meine ich.«
Alissa spürte neue Tränen, die ihr die Kehle zuschnüren wollten, biss sich auf die Unterlippe und bemühte sich, ihre Stimme ruhig klingen zu lassen. »Bailic wollte die Erste Wahrheit . Mein Papa hatte sie. Bailic hat die Meister betrogen und in den Tod geschickt, um sie zu bekommen, und dann systematisch die Bewahrer und Schüler ermordet, um herauszufinden, wer sie besaß.«
»Die Erste Wahrheit ? Was ist das?«
»Das ist ein …«, begann Alissa und erschauerte dann, überrascht von den warmen Gefühlen, die sie beim Gedanken an das Buch überkamen, ein starkes Begehren, das ihr unpassend erschien. »Das ist ein Buch«, flüsterte sie, den leeren Blick in die Ferne gerichtet. »Es enthält die größte Weisheit der Meister und wurde meinem Papa zur Aufbewahrung anvertraut. Ich glaube, es war das Buch, das ich damals gefunden habe, bevor er aufbrach …« Alissa runzelte die Stirn. Er konnte doch nicht deshalb fortgegangen sein, oder? Sie schlug sich diesen grauenhaften Gedanken aus dem Kopf und wandte sich Strell zu. »Also gehört es jetzt wohl mir, bis sie es zurückverlangen.«
»Aber du hast doch gesagt, alle Meister wären tot!«
Sie spürte den Hauch eines Grinsens um ihre Mundwinkel. »Das stimmt. Ich brauche es also nur zu finden. Mein Papa hat gesagt, das könnte ich. Wir gehen zur Feste, ich spüre es auf, wir reisen weiter, du zeigst mir diesen Winter die Küste, und bis zum Frühsommer bin ich wieder zu Hause. Was könnte einfacher sein?« Alissa strahlte zu ihm auf, doch ihr Lächeln gefror, als sie merkte, dass sie beinahe auf seinem Schoß saß. Strell räusperte sich und ließ sie los.
In diesem Augenblick landete Kralle auf einer nahen Kiefer, mit etwas Pelzigem in den Klauen. Sie zwitscherte zufrieden vor sich hin, wandte sich dann zu ihnen um, und es sah beinahe so aus, als müsse sie zweimal hinschauen. Das kleine Nagetier fiel mit einem nassen Plumps vergessen in die modrigen Kiefernnadeln. Sie sträubte das Gefieder und begann zu fauchen.
»Äh, vielleicht sollte ich …« Verlegen stand Strell auf.
»Ja«, murmelte Alissa mit heißen Wangen, obgleich sie nichts Böses getan hatten. »Ganz deiner Meinung.«
Kralle flatterte zu Boden. Sie jaulte wie von Sinnen und stakste mit einem gefährlichen Ausdruck in den Vogelaugen auf Strell zu. Strell und Alissa wechselten einen verdutzten Blick, völlig fassungslos. Strell trat argwöhnisch einen Schritt zurück, was den Vogel jedoch nur noch mehr zu reizen schien.
»Ich – äh – mache einen kleinen Spaziergang«, murmelte er und zog sich taktvoll in den Morgennebel zurück, wobei er im Vorbeigehen noch den Wasserschlauch mitnahm. Kralle blickte ihm nach und sah so zufrieden aus, wie ein Vogel nur aussehen kann. Alissa dachte, nun sei es vorüber, doch
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