Alissa 1 - Die erste Wahrheit
abkürzen.« Er zeichnete mit einem langen Zeigefinger seinen vorgeschlagenen Weg nach, und Alissa stieß zweifelnd den Atem aus.
»Wenn mein Papa einen Umweg gemacht hat, dann gibt es einen Grund dafür«, erklärte sie knapp und wandte sich wieder ihrer Näharbeit zu. Sie stieß die Nadel durch das Leder und wünschte, er würde ein wenig abrücken, war aber zu stolz, selbst von der Stelle zu weichen.
»Kann sein«, sagte Strell. »Aber für mich sieht es ganz so aus, als hätte er einen Umweg gemacht, um durch diesen Weder-noch-Ort zu gehen. Ich würde den Weg gern abkürzen. Was meinst du?«
»Ich meine, du solltest die Karte meines Papas lieber mir geben, wenn du sie nicht lesen kannst und nicht bereit bist, sie sinnvoll zu benutzen.«
Strell blickte mit schlauer Miene auf. »Weißt du was?«, begann er, rollte die Karte zusammen und rückte ein Stück von ihr ab. »Ich glaube, du kannst gar nicht lesen. Nicht einmal diese komischen Kringel auf meiner Karte.«
Alissa blieb der Mund offen stehen. »Wie bitte?«, fauchte sie.
Grinsend wich er weiter zurück. »Ich glaube, du denkst dir das alles nur aus. Ich denke, diese Schnörkel da bedeuten überhaupt nichts.«
»Was ist mit den Beeren von neulich? Ich habe dir gesagt, dass die auf der Karte verzeichnet sind, und genau da haben wir sie auch gefunden.«
Er lächelte nachsichtig. »Jeder weiß doch, dass auf solchen Berghängen viele Beeren wachsen.«
»Aber ich habe dir vorausgesagt, dass es Blaubeeren sein würden!«
»Gut geraten.«
Alissa starrte ihn an, während sein Grinsen immer breiter wurde. Es war offensichtlich, dass er sie necken wollte, und das frustrierte sie noch mehr. Sie widmete sich ganz ihrer Stickerei und hoffte verzweifelt, er würde ihr nicht anmerken, wie sehr er ihr damit zusetzte; doch ihre Fingerknöchel, die weiß hervortraten, weil sie die Hutkrempe so fest umklammerte, und die energischen Stiche, mit denen sie die Nadel führte, verrieten sie dennoch.
Er beugte sich um das Feuer herum und kam ihr gefährlich nahe. »Schau, Alissa. Siehst du das?« Er deutete auf die Karte. »Da schlafen tagsüber die Sterne.«
Sie ignorierte ihn.
»Und hier? Schnecken.« Er lehnte sich zurück und warf sich in eine bedeutsame Pose. »Für deine Kopfschmerzen.«
Sie biss die Zähne zusammen.
»Und das hier? Siehst du dieses Wort? Das bedeutet, dass man den Fluss nicht überqueren kann, außer man fangt vorher einen Fisch für die Flussgeister.«
Alissa warf ihm mit schmalen Augen einen langen Blick zu, doch der schien ihn nur zu ermuntern.
»Und das hier bedeutet, dass sich hier die Wölfe treffen, um bei Vollmond zu tanzen.«
Sie blickte hinab. »Da steht ›Gute Angelstelle. Kaufmann‹.«
»Kaufmann!«, rief er aus und schlug sich dramatisch mit der Hand auf die Brust. »Oh, damit hast du mich zutiefst verletzt.« Grinsend beugte er sich noch dichter heran. »Sieh mal.« Ein Finger zeigte auf die Karte. »Hier lernen die Rakus das Fliegen.«
»Gib sie her«, explodierte sie und stürzte sich auf die Karte.
»Oh nein.« Lachend brachte Strell sich in Sicherheit. Er rollte die Karte zusammen, verschnürte sie mit dem Band ihrer Mutter und packte sie weg. Kralle schien leise zu kichern und machte es sich für ein Nickerchen in der nach Asche duftenden Wärme des Feuers gemütlich. Alissa warf beiden einen finsteren Blick zu und widmete sich wieder ihrer Näherei. Jede weitere Erwiderung würde Strell nur glauben lassen, dass er sie damit traf – was er ja auch tat.
Offenbar befand Strell, dass sie nun für einen Abend genug ertragen hatte, denn er packte seine Flöte aus und spielte ein paar Takte von »Taykells Abenteuer«. Die Musik vermischte sich angenehm mit dem Tropfen der Zweige und dem Lied einer einsamen, tapferen Grille. Das arme Ding klang geradezu verzweifelt, als hätte es den Morgenfrost ebenfalls schon bemerkt. Sogleich wurde Alissa weicher ums Herz, und sie wartete voller Vorfreude auf Strells nächste Melodie.
Strell konnte auch singen, doch er ließ seine klangvolle Stimme, die Alissa stets mit ihrer erstaunlichen Kraft erschreckte, nur selten hören. Er war für seinen erwählten Beruf hervorragend geeignet, und darum beneidete sie ihn. Er hatte ein angenehmes Leben vor sich und konnte sich zuversichtlich seinen Weg suchen, wo immer es ihm gefiel. Alles, was sie hatte, war ein albernes, aber ständig wachsendes Begehren, ein Buch in die Hände zu bekommen. Sie hatte keine Ahnung, was sie hier überhaupt tat.
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